»Each Memory Recalled Must Do Some Violence to its Origins«, Geheimgehaltener Ausstellungsort
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Bei Null beginnen

Seit 2012 Kurator am Utah Museum of Contemporary Art, hat AARON MOULTON dieses Jahr die Utah Biennale gegründet. Er spricht mit CARSON CHAN, Kurator der Biennial of the Americas in Denver, über die Herausforderungen eines regionalen Standorts, das Erbe der Land Art und die Zusammenarbeit mit den Mormonen im amerikanischen Mountain West.

CARSON CHAN: Du hast fünf Jahre in Berlin gelebt. Für Ausstellungsmacher ist es Segen und Fluch zugleich, dass man in einer solchen Kunstmetropole nicht zwingend über Kontext oder Publikum nachdenken muss. Als du dann vergangenes Jahr als Kurator nach Salt Lake City gekommen bist, was war die größte Herausforderung für dich?

AARON MOULTON: In Berlin sind das Vokabular und das Verständnis für künstlerische Praktiken bereits vorhanden, in Utah hingegen können die Vorstellungen und Erwartungen an zeitgenössische Kunst noch sehr medien- oder genreorientiert sein. Qualität oder Kriterien von Relevanz einzuführen versuchen ist schwierig, wenn es nicht überhaupt als elitär empfunden wird. Dazu kommt, dass es hier auch historisch nur wenige Beispiele für zeitgenössische Kunst gibt, Robert Smithsons »Spiral Jetty« (1979) war ein kurzes Aufflackern und ein paar andere Glanzmomente der 70er- und 80er-Avantgarde. Man wird also wahrscheinlich immer der erste sein, wenn man hier etwas macht. Aber wie schafft man es, Leute für etwas zu interessieren, was ihre Erwartungen oder Gewissheiten in Frage stellt? Ich versuche mit Ideen, Künstlern und Kunst zu arbeiten, die in zwei Richtungen verstanden werden kann, zum Beispiel eine Ausstellung über Figuration zu machen, in der es eigentlich um Genderprobleme geht. Eine der größten Gefahren für einen regionalen Kurator ist, das Lokale zu übersehen und nur Trends aus L.A. oder New York zu importieren. Man muss wirklich bei Null beginnen und jeden Ort als Kunstwelt mit eigenen Parametern und Bedingungen respektieren. Dann muss man herausfinden, wie diese Orte sich über die jeweils fortgeschrittensten Praktiken, die man entdeckt, miteinander verflechten lassen.

»Each Memory Recalled Must Do Some Violence to its Origins«, Geheimgehaltener Ausstellungsort
CHAN: Smithson hat mit »Spiral Jetty« für diese Community etwas mit einzigartig globaler Ausstrahlung geschaffen. Welche Rolle spielt für die relativ kleine Kunstszene die enorme Aufmerksamkeit für dieses eine Werk? 

MOULTON: »Spiral Jetty« ist zwar eine Ikone und ein Segen für jede Community, aber auch ein Problem. Smithson war ein Durchreisender, er hinterließ eine Spur und zog weiter. Wenn zeitgenössische Kunst und Utah in einem Satz genannt werden, dann immer in Zusammenhang mit »Spiral Jetty«. Internationales Kunstpublikum kommt nur um diese Arbeit zu sehen, was den Blick auf die lokale Kunst verstellt. Doch die internationale Wahrnehmung von Utah hat sich in den letzten zwei Jahren durch die Präsidentschaftskandidatur des Mormonen Mitt Romney stark verändert. Die Menschen sind von dieser Religion fasziniert, auch wenn sie nur ein oberflächliches Interesse für ihre exotischen Aspekte haben. Das Mormonentum, die Polarisierungen, die es erzeugt, die Landschaft, die Abgelegenheit der Stadt schaffen sehr spezifische kulturelle Bedingungen. Es ist wie ein Vakuum, in dem die Dinge ihre eigene Sprache entwickeln. Ich glaube, viele Künstler versuchen ihre Beziehung zum Land zu verstehen, indem sie konzeptuell mit der Landschaft arbeiten – als dritte oder vierte Land-Art-Generation. Andere Künstler, benutzen ihre »Heiligen der Letzten Tage«-Erfahrung oder Post-»Heiligen der Letzten Tage«-Erfahrung als Material. 

CHAN: Letztens hast du mir die ordentlich gekleideten, gepflegten Mormonen gezeigt und dann die Leute mit Gesichtstätowierungen und Nackenpiercings, die sehr offen kundtun, dass sie mit den Mormonen nichts zu tun haben wollen. Welche Herausforderungen und Einschränkungen hat ein Kurator in diesem ziemlich polarisierten sozialen und ideologischen Kontext? 

MOULTON: Viele der unausgesprochenen Regeln muss man nicht einmal brechen, weil sie zu weit von dem entfernt sind, was an zeitgenössischer Kunst heute interessant ist. Blasphemie und Geschlechtsverkehr kann man hier nicht bringen. Aber warum sollte man sich überhaupt damit beschäftigen, es ist zu offensichtlich. Und doch ist es wichtig, keine Kompromisse zu machen. Beim Thema Religion und zeitgenössische Kunst entsteht schnell die Angst, dass es zu Kontroversen kommt. Die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage ist eine wichtige demografische Gruppe, die wir ansprechen und für zeitgenössische Kunst interessieren müssen. Ihre Mitglieder machen die halbe Bevölkerung aus. Wir haben Christian Jankowskis Video »Casting Jesus« (2011) gezeigt, das genau die Befürchtung auslöst, es könne sich um eine Verhöhnung oder Parodie handeln. Jankowski inszenierte eine Casting-Show im Vatikan, wo Vatikanspezialisten aus dreizehn Kandidaten einen Jesus wählten. Er drehte auf der heiligsten aller Bühnen einen klugen Film, der die Kriterien für das Bild der Gottheit hinterfragt. Viele Leute waren überrascht und begannen die normalerweise verborgene und jetzt scheinbar transparente Situation zu hinterfragen. Der Film ließ die Kirche am Ende nicht dumm aussehen, sondern lieferte was man erwartet hatte: einen Gewinner, einen Jesus. 

Christian Jankowski, Casting Jesus, 2011
Videostill, Farbe, Ton, 60 min.
Courtesy Lisson Gallery, London
CHAN: Viele aktuelle künstlerische Strategien arbeiten mit dem Zweifel, mit Zynismus und Halbwahrheiten. Das scheint geradezu das Gegenteil von Glaube zu sein. Du hast den Film von Jankowski angesprochen, aber kann man auch allgemeiner darüber nachdenken, wie zeitgenössische Kunst und das Mormonentum wirklich nebeneinander existieren könnten. Wie lassen sich der Zynismus der Kunst und die Aufrichtigkeit der Mormonen zusammen denken? 

MOULTON: Lustig, dass du sagst die heutige Kunst baue auf dem Zweifel auf. Ich glaube, dass Kunst typischerweise als Schwindel gesehen wird, oder als Lüge; vor allem das duchampsche Urinal, oder zeitgenössische Kunst ganz allgemein, wenn sie nicht ins Bildverständnis passt. Heute sind die Strategien der zeitgenössischen Kunst sehr recherche- und glaubensorientiert. Wir haben Guido van der Werves Video »Number 9« (2007) gezeigt, wo er sich am Nordpol um seine eigene Achse dreht. Ein lokaler Kritiker kommentierte, »Glaubt dieser Typ er kann uns zum Narren halten?« Er war nicht bereit, dieses Projekt auch nur irgendwie ernst zu nehmen, weil es außerhalb seines Vorstellungsvermögens oder Bezugssystems lag. Ich glaube wirklich, dass es bei der zeitgenössischen Kunst genauso um das Glauben wie um das Zweifeln geht. Es geht darum, wie wir diese Glaubenssysteme schaffen, wo die Frage nach dem Wert schwierig zu rechtfertigen ist, bis sie innerhalb der Kultur einen Kultstatus erreicht. Von ihren frühesten Anfängen an war Kunst ein Vehikel für Spiritualität, wonach wir auch teilweise ihren Wert für die Kultur bestimmen. In einem religiösen Kontext wird dieser Wert von den Gläubigen vorausgesetzt, was eine Infragestellung von innen und außen schwierig macht. In der Kunst hinterfragen wir permanent die Aussagekraft unserer Handlungen, die Wahrheiten hinter der Recherche, das Auf und Ab des Marktes, es ist ein kontinuierliches Infragestellen …. 

CHAN: Du hast eine Ausstellung in einer Geisterstadt in der Nähe von Salt Lake City gemacht, deren ganzer Sinn darin besteht, dass niemand sie sieht, sondern sie nur als Dokumentation existiert. Künstler wie Cyprien Gaillard, Constant Dullaart, Nedko Solakov, Lawrence Weiner und Mike Bouchet waren eingeladen. Wie ist das entstanden? 

MOULTON: Die Ausstellung heißt »Each Memory Recalled Must Do Some Violence to Its Origins«, ein Zitat aus Cormac McCarthys Buch »Die Straße« (2007). Die Hauptfigur versucht ihrem Sohn die Schönheit der Zivilisation nahezubringen, die in seiner brüchigen Erinnerung verloren geht. Der Prozess des Erinnerns zerstört die Erinnerung gleichzeitig, da er sie auf wenige Bilder und Sentimentalitäten reduziert. Ich wollte eine Ausstellung darüber machen, wie Wertsysteme entstehen. »Jetty« ist in unserem kollektiven Bewusstsein so präsent, existiert für 99% aber nur als JPG und wird niemals real gesehen werden. Ist das wichtig? Vielleicht nicht. Die Ausstellung macht sich eine bestimmte Bewusstseinslage zu eigen, vielleicht die der Zwecklosigkeit der Existenz, eine Geste, die niemand sehen wird. Jede Zivilisation feiert ihre Kunst und baut ihr klimatisierte Kathedralen, um sie im ewigen Aspik zu konservieren. Mich fasziniert der Gedanke: Was wäre, wenn das alles zusammenbrechen und auseinanderfallen würde, wie schnell würde das Unbezahlbare keinen Wert mehr haben. Nach der Invasion des Irak wurden als erstes die Museen geplündert. Die Diebe nahmen Exponate mit, unbezahlbare Ikonen der Menschheit, die sofort ihren Wert verloren. Man kann sie auf keinem Markt verwerten, aber sie wurden trotzdem gestohlen. Was bedeutet diese plötzliche ideologische Verschiebung? In einer Ausstellung in dieser unbeständigen Umgebung in einer Geisterstadt, in der sie immer bleiben wird, aber außer von einem zufälligen Besucher von niemandem gesehen wird, geht es wirklich um das latent Zwecklose dieser Situation. 

CHAN: Wie bist du auf diesen Ort gekommen? 

MOULTON: Ich habe mich letzten Sommer auf die Jagd nach Geisterstädten gemacht. Es gibt Webseiten dazu, aber viele der Fotos sind nicht mehr aktuell. Orte werden für den Tagebau geschliffen oder verschwinden einfach. Ich sah viele seltsame Städte, und dann fand ich diese eine. Sie war perfekt. 

CHAN: Wie hast du die Künstler dann eingeladen? 

MOULTON: Die Künstler konnten mir entweder für fünfzig Dollar Produktionsbudget eine Anleitung für eine Arbeit vor Ort schicken, oder ich übernahm die FedEx-Kosten für ein Objekt. Alles, was installiert wurde, bleibt auch für immer dort. Es war wichtig, dass die Projekte die Gesamtsituation als Medium und Kontext aufgreifen. Das Resultat erinnert an persönliche Universen wie des Unabombers, von Bigfoot oder eines Landstreicher-Schamanen. Die Projekte verbanden verschiedene kunsthistorische Figuren vom entropischen Formalismus bis zu Entwicklungslinien des Zeichens, von Lascaux über William Anastasi zu Piotr Uklański. 

CHAN: Ich weiß, dass du die genaue Lage der Stadt nicht verraten willst, aber könntest du das Haus und seine Umgebung beschreiben? 

MOULTON: Es ist ein sehr abgelegener Ort mitten in Utah, etwa zwei Stunden von Salt Lake City. Im späten 19. Jahrhundert kamen etwa 17.000 dänische Einwanderer nach Utah. Sie dachten damals, es sei ein guter Ort um auf den bevorstehenden Weltuntergang zu warten. Dieses Haus wurde also wahrscheinlich von dänischen Siedlern gebaut und irgendwann vor den 50er Jahren verlassen. Es hat fünf Räume; an manchen Stellen fällt es schon auseinander. Der Grundriss ist unregelmäßig, eher wie eine Favela gewachsen. Innen gibt es eine sehr einfache, wunderschöne Tapete mit komischen Flecken. 

CHAN: Du hast erwähnt, dass du auf die Geschichte der Land Art reagieren wolltest. Jetzt ist da dieses Projekt in dieser Geisterstadt, das niemand außer dir findet. Die Dokumentation ist auf YouTube aber für jeden zugänglich. Ich finde die Parallele zu Smithsons Site-/Non-Site-Konzept interessant; die Tatsache, dass ein realer Ort im Spiel ist, man diesen realen Ort jedoch über eine Non-Site-Situation erfährt. Für Miwon Kwon gibt es historisch gesehen keine Land Art ohne Dokumentation. »Dort« zu sein und »nicht dort« zu sein, trennt eine feine Linie. Eine der letzten Ausstellungen am UMoCA beschäftigt sich mit dieser Art von Trennung zwischen analog und digital. Kannst du darüber erzählen? 

MOULTON: Der Titel der Ausstellung war »Analogital«. Ich verdanke unseren Diskussionen in Berlin und der Künstlergeneration, mit der wir gearbeitet haben, sehr viel. Es gibt unzählige Ausstellungen zum Thema Mem, Simulakrum, Rekursion und ähnlichem. Ich wollte eher einen Makroblick auf das Ganze werfen und hatte das Gefühl es würde Sinn machen, sich mit dem Zwischenraum von analog und digital zu beschäftigen und mit jener Generation, die das betrifft. Wir sprachen über die 89plus Generation, die Hans Ulrich Obrist mit dem Kurator Simon Castets kürzlich ausrief. Die Generation davor, zu der wir gehören, vielleicht zurück bis in die späten 60er, hat aber alles erlebt: die Rück- oder Entwicklung der Bilderzeugung, den Wechsel von Bildern zu archetypischen Templates und den Verlust der Nostalgie für das Bild selbst. Technologische Interfaces haben über soziale Netzwerke die direkte Erfahrung von Realität zu einer sekundären hin verschoben. Wie hat diese Evolution der Wahrnehmung die menschliche Erfahrung verändert? Diese Entwicklung hat ihre industriellen Wurzeln hier in Utah, es ist das Silicon Valley des Mountain West. Adobe hat seine Ursprünge hier, Pixar entwickelte sich aus Experimenten an der University of Utah School for Computing, genauer aus der Utah Teekanne – ein frühes 3D-Modell einer Teekanne, das wir auch in der Ausstellung zeigten.

Jennifer West, Salt Crystals Spiral Jetty Dead Sea Five Year Film, 2008-2013
54 Sek., 70mm-Filmnegativ auf HD übertragen
Auftragswerk vom Utah Museum of Contemporary Art für »Analogital« 2013
Oliver Laric, Versions, 2010
Installationsansicht »Analogital« Utah Museum of Contemporary Art, 2013
Courtesy Tanya Leighton, Berlin und SEVENTEEN, London
Stephen Groo, She-Hulk, 2013
Production still, »Mondo Utah« Utah Biennial 2013
Courtesy Wolf Productions
CHAN: Ich war noch nicht oft hier im Mountain West. Ich arbeite gerade an der Biennial of the Americas in Denver. Es gibt dort gute Künstler und Institutionen, doch für die globale Kunstproduktion ist es in vieler Hinsicht ein blinder Fleck – obwohl alles da wäre, um international eine größere Rolle zu spielen. Es gibt Geld, und es gibt Interesse; und es gibt Kunstschulen wie die Rocky Mountain School of Art and Design und die School of Art at the University of Denver. An dieser Biennale zu arbeiten finde ich auch deshalb interessant, weil die Amerikas keine Biennalen-Kultur kennen. Es gibt die Whitney Biennial, Sante Fe und natürlich die São Paulo Biennial, aber keine richtige Biennalen-Kultur wie in Europa. Bei Null zu beginnen und eine Situation zu schaffen, wo alle zwei Jahre über zeitgenössische Fragen nachgedacht werden kann, ist wirklich spannend, besonders mitten im Herzen Amerikas. Du hast die Utah Biennial of Contemporary Art ins Leben gerufen. Was war deine Motivation? 

MOULTON: Es gibt kulturell und künstlerisch gesehen viel Unentdecktes hier. Ich war ja in den letzten zehn Jahren nicht in Amerika und hatte ein sehr eingeschränktes Verständnis davon, was die amerikanische Kultur ausmacht. Man denkt dann schnell, es gäbe nur New York und L.A. und dazwischen eine Grauzone. Wie du schon sagst, es ist ein blinder Fleck. Wenn man dann hier ist, begreift man sofort, dass es einen ganz spezifischen Kontext gibt, der mit anderen Städten in Amerika nicht zu vergleichen ist. 

CHAN: Du hast letztens gesagt, dass die wahren Pole in Amerika nicht New York und L.A. sind, sondern … 

MOULTON: … Las Vegas und Salt Lake City, was stimmt. Wenn man über die kulturellen Extreme dieses Landes nachdenkt, dann sind es diese. Eine Stadt gegründet auf Religion, und die andere auf einer Religion des Lasters und Konsums. Die aufregendsten Momente in der Kunst waren für mich immer die, wo mein Bezugssystem nicht mehr brauchbar war und ich plötzlich ganz von vorne beginnen musste. Die Isolation hier erzeugt ihre ganz eigene Bedingung für Sprache und kulturelle Produktion, die einem leicht fremd erscheinen kann. In New York, L.A., Berlin oder London findet man eine vertraute Sprache und einen internationalen Kunststil. In Utah, wie im Kosovo oder in Kaliningrad, muss man sich wirklich bemühen, die kulturellen Verhältnisse zu verstehen, die einen so tiefgreifenden Einfluss auf die Praktiken der Künstler dort haben. In der Biennale geht es darum, ein Lexikon zu erarbeiten und zu zeigen, wie es entsteht. So wie du in Denver habe ich in Salt Lake City die chance, die vorgefassten Meinungen von regionalen Biennalen abzubauen und die Relevanz des Regionalen hervorzuheben. 

Utah Biennial: Mondo Utah, 2013
Installationsansichten, Utah Museum of Contemporary Art, Salt Lake City
Courtesy Utah Museum of Contemporary Art, Fotos: Jason Metcalf
CHAN: Wie immer man dazu steht, die Venedig Biennale hat einen Sinn für das Internationale in der zeitgenössischen Kunst geschaffen. Welchen kulturellen Rahmen produziert die Utah Biennale, mit dem sich der Rest der Welt identifizieren oder davon lernen kann? 

MOULTON: Letztendlich bin ich sehr nostalgisch. Ich sehne mich zurück nach einem Europa vor Schengen. Ich finde gut, dass Grenzen und fremde Parameter für Kunst dem Betrachter Auseinandersetzung abverlangen, so ähnlich wie das Lernen einer neuen Sprache. Das Schöne an Kunst ist ihr Vermögen verschiedenste Kulturen zu übersetzen. Die Utah Biennale dreht sich um das Universum von Utah. Verlorene Bilder, kulturelle Gespenster und parallele Kunstwelten werden wieder ans Licht geholt, um die zeitgenössische Kunst über Folklore zu beschreiben und umgekehrt. Ob das irgendeinen Wert für die globale Kunstwelt hat, kann ich nicht sagen. 

CHAN: Du hast sie als Anti-Biennale konzipiert. Viele Städte auf der ganzen Welt, von Metropolen bis zu sehr kleinen Orten, machen Biennalen, um international zu wirken. Es klingt, als wärst du bis zu einem Grad daran interessiert, aber auch am genauen Gegenteil, nämlich einen lokalen Diskurs voranzubringen, egal was das internationale Publikum davon hält. 

MOULTON: Ich habe nicht Anthropologie studiert, aber der ethnografische Ansatz hat mich immer interessiert. Kunst kann da am nützlichsten sein, wo sie außerhalb des Kunstkontextes auf eine Kultur angewandt werden kann. 

CHAN: Kannst du mir über diese religiöse Organisation erzählen, die du zur Biennale eingeladen hast? 

MOULTON: Summum ist eine informelle Vereinigung ähnlich einer religiösen Gemeinschaft. Sie wurde in den 70ern von Corky Ra gegründet, der davor zur Kirche der Heiligen der Letzten Tage gehörte. Alle ihre Mitglieder haben das Potenzial, die Stimme Gottes zu hören. Die Symbolsprache ist von jener der Freimaurer durchsetzt, die ins Alte Ägypten zurückreicht. Corky wurde 1975 von einem höheren Wesen kontaktiert, das ihm befahl Summum, die Summe aller Religionen, zu gründen. Sie haben eine Pyramide drüben am Highway, 8th West und 8th South, und zelebrieren alle Religionen. Sie sind ziemlich bekannt für ihre zeitgenössische Form der Mumifizierung. Sie sehen die »Mummiform« oder den Sarkophag wie die Ägypter als Vehikel des Übergangs, um die nächste Ebene der Existenz zu erreichen. Auf der Biennale zeigen wir so etwas Ähnliches wie einen Summum Pavillon, der aussieht wie ihr Messestand auf der American Funeral Director Fair in den 80ern. Die Gruppe war eine Attraktion. Zwei der Leiter der Organisation sind Bestatter, also qualifiziert für das, was sie tun. Ihre Mumifizierungen können visuell an zeitgenössische Skulptur anschließen, obwohl sie überhaupt nicht als Skulpturen gedacht sind. Da kommt man zurück zur Funktion von Kunst als Medium für Spiritualität. 

CHAN: Im Informationszentrum der Mormonen spielt Malerei und Installation für die Vermittlung der Religion eine große Rolle. Man wird an Malereien der biblischen Geschichte der Mormonen vorbeigeführt, landet in einem großen Kuppelgewölbe mit einem gemalten Weltall und einer riesigen, emporragenden Jesusstatue. Durch die Soundanlage hört man die Stimme Gottes. Ich frage mich, ob auch Kunst diese Art von Glaube, Vision und Weltsicht heraufbeschwören kann. 

MOULTON: Ich weiß es nicht, ich gehöre keiner Religion an. Ich glaube an die Kunst. Aber alle, Kunst eingeschlossen, sind auf Theatralik, das Spektakel, Geschichtenerzählen und Entertainment angewiesen. Ich denke, dass beide darin sehr erfolgreich sind, das Bewusstsein der Menschen für das Erhabene oder schlicht für das Prächtige zu öffnen. Vorhang auf für Olafur Eliasson. 

CHAN: Ich wollte gerade James Turrell sagen. 

MOULTON: Die Rückseite des Gotteshauses neben dem Informationszentrum ist in verschiedenfarbiges, langsam wechselndes Licht getaucht, wie ein Eliasson. Reine Inszenierung, aber es wirkt. 

CHAN: Im Grunde die gleiche Strategie. 

MOULTON: Am meisten kann ich mich für Ideen begeistern, die aus Zynismus heraus entstehen. Ich habe vor ein paar Jahren eine Fake-Zeitung mit dem Untertitel »Embracing the Futility of the Medium« gemacht. Wir leben in einer Zeit vieler Wahrheiten. Wahrnehmung ist Realität. London, Berlin, Paris, New York gelten als Mittelpunkt der Kunstwelt, aber wenn man es richtig macht, kann jeder Ort zu einem Mittelpunkt werden. Infoganda ist in der Kunstwelt en vogue seit die Visibilität so wichtig wurde. Aus diesem Grund ist e-flux eine eigene Kunstwelt. Es ist wie ein weißes Rauschen. Wir wissen nicht mehr, wo wir die »guten Sachen« finden sollen, weil jeder für seine guten Sachen Werbung macht. Mir gefällt die Vorstellung, dass das Unsichtbare eine der letzten brauchbaren Währungen in unserem Metier ist. 

CHAN: Geht es wirklich um Unsichtbarkeit und nicht um Pluralität? 

MOULTON: Es ist sehr attraktiv, nicht überall mitspielen zu müssen. Außerhalb von Utah wird man über die Biennale nur schwer etwas erfahren, es sei denn man sucht nach ihr. Die Ausstellung in dem verlassenen Haus wird nie jemand finden, nicht einmal mit Google-Maps. Aber für den, der sie findet, wird es etwas ganz Besonderes sein, wie ein vergrabener Schatz. 




AARON MOULTON (*1978) ist Kunsthistoriker und Kurator und lebt in Salt Lake City, wo er seit 2012 am Utah Museum of Contemporary Art arbeitet. Er war für die Wrong Gallery in New York sowie das Magazinprojekt Charley tätig und arbeitete als Redakteur für Flash Art und AGMA. 2007–2010 betrieb er die Galerie Feinkost in Berlin. 

CARSON CHAN (*1980) ist Architekturkritiker und Kurator in Berlin. 2012 kuratierte er die 4. Marrakesch Biennale, derzeit ist er Kurator der Biennial of the Americas, die im Juli in Denver, Colorado, eröffnet.

Summum, Life Masks, 2000s
Vergoldete Masken
Courtesy Summum