Gilbert & George, By the Fireside of Lina Bo Bardi, 2012
»The Insides Are On The Outside«
Casa de Vidro, São Paulo 4.4.–26.5.2013
 
Häusliche Verstrickungen
 
Hans Ulrich Obrists Ausstellung in der modernistischen Villa der Architektin Lina Bo Bardi, die sie für sich und ihren Mann Pietro Maria Bardi gebaut hatte, ist nicht die erste des Kurators in einem scheinbaren Wohnhaus. Ich sage scheinbar, weil das Casa de Vidro (Glashaus) wie auch seine Vorgänger kein gewöhnliches Haus ist. Das Nietzsche Haus im schweizerischen Sils Maria, das Sir John Soane’s Museum in London, die Casa Luis Barragán in Mexico City und Federico García Lorcas Huerta de San Vicente in Granada sind alle mit der Geschichte und kulturellen Bedeutung ihrer früheren Besitzer aufgeladen, und so ist es auch bei Bo Bardis Bau.

Das 1951 in einem Vorort im Süden São Paulos errichtete Haus steht auf Stelzen über einem hügeligen, verwinkelten Garten. Der persönliche Besitz der Architektin und ihres Mannes (der Kurator am Museu de Arte de São Paulo war, dem bekanntesten Bau Bo Bardis) ist immer noch sehr präsent. Die Möbel sind unversehrt, das Wohnzimmer ist voll von Kunsthandwerk, Sammlungsstücken und Souvenirs, Küche und Badezimmer sind noch intakt. Cildo Meireles’ Soundarbeit »Pietro Bo« reenactet Pietro, wie er immer und immer wieder Lina um Kaffee ruft – ein gespenstisches Echo der früheren Bewohner, das durch die Ausstellung tönt. Die meisten der über zwanzig künstlerischen Beiträge – und die, wie auch der von Meireles, zu den gelungensten zählen – haben die klare Absicht, sich harmonisch in die Umgebung einzufügen und den früheren Bewohnern ihre Ehre zu erweisen. Wenn auch auf subtile Art, spielen die Künstler mit unserer Wahrnehmung von Fiktion versus historischen Fakten.

Cristina Iglesias, Under and from the trees (for Lina Bo Bardi), 2013
Rivane Neuenschwander, »The Insides Are On The Outside«, 2013
Rivane Neuenschwanders hausübergreifende Installation aus gefundenen und gekauften Stühlen ist ein extremes Beispiel dafür. Gäbe es keinen Ausstellungsplan, würde man sie für Originalmöbel halten. Es ist ein schöner fiktiver Bruch mit der Geschichte des Hauses und der vermeintlichen Biografie, die man daraus lesen mag. Ein uninformierter Besucher könnte das gleiche auch von Sarah Morris’ Malerei »Lina Bo Bardi« (2013) denken, die neben dem Eingang zum Wohnzimmer hängt. Es scheint wie trockene Selbstironie, als wäre der Künstlerin bewusst, dass ihre geometrischen Formen im brasilianischen Mid-Century Modernismus mit seinen klaren Linien und Primärfarben zeitgenössischer gewirkt hätten als heute. Die Arbeit in dieser Umgebung zu sehen verrät etwas zu viel von Morris’ Bezug auf jene Epoche und lässt die Frage auftauchen, wie revolutionär ihre Arbeit eigentlich ist. Und doch spielt sie Obrist dabei den Ball zu, den Besucher in der Unterscheidung von bewahrtem Artefakt und Kunstobjekt zu verwirren. 

Auf einer Staffelei gegenüber dem Eingang steht ein Porträt von Gilbert & George, das vor dem Kamin aufgenommen wurde und ein wenig die Rolle der Hausherren übernimmt: das Foto »By the Fireside of Lina Bo Bardi« (2012) wirkt in diesem Kontext wie eines jener sentimentalen Familienporträts, die man auf der ganzen Welt findet. Als »Hausbesetzer« erzeugen die beiden eine interessante Spannung. Wem gehört dieses Haus? Gilbert & George beanspruchen es ohne Skrupel für sich selbst. Die Arbeit deutet einerseits an, wie wir Räume mit Emotionen aufladen, wie ein Gebäude jenseits von Besitz zu »unserem« werden kann, und ist zugleich ein weiterer Verwirrungsversuch von Obrist. 

SANAA, Library Model, 2013
Renata Lucas, Kopie eines Porträts von Lina Bo Bardi, an der Außenwand des Hauses installiert
Leicht zu übersehen sind Koo Jeong-As und Paulo Nazareths Beiträge. Erkennt man sie dann aber als zeitgenössisch, werden sie zu zwei der berührendsten Arbeiten der Ausstellung. In einem Küchenschrank steht eine Gruppe von beinahe identischen Abgüssen eines weiblichen Torso. Jeder ist nur etwa 30 cm hoch, weiß, nackt, mit hängenden Brüsten. Eine einzelne Figur der Serie steht im Wohnzimmer zwischen den originalen Artefakten des Hauses. Es ist nicht klar, ob die Figuren in der Küche Kopien dieser einen, oder ob sie alle Schöpfungen von Koo Jeong-As sind. Das könnte man natürlich leicht herausfinden, doch das Geheimnis um diese evokativen Frauen, deren Gegenwart die Geschichte des Hauses kolonisiert, wäre dann zerstört. 

Nazareths Arbeit ist eine attraktive Wand aus gestapelten Obstkisten im Hof, die man zwar nicht für ein Relikt aus Bo Bardis Zeit halten könnte, aber für Überbleibsel einer Eröffnungsparty. Sie baut eine Differenz zwischen Kunst und dem Alltäglichen auf, der für die gesamte Ausstellung bezeichnend ist. Kunst ist hier eine Form von Fiktion – etwas Spielerisches, Illusionäres, frei und voller Imagination, und richtet sich gegen das Handwerk der Historiker, bei den Fakten zu bleiben. Die Ausstellung befreit von der Vorstellung, Kunst müsse eine Wahrheit offenbaren, sondern fordert sie ganz offen zur Lüge auf. — 

OLIVER BASCIANO

Koo Jeong-A, Kopien einer handgeschnitzten Holzskulptur
Paulo Nazareth