JK

Portrait Ryan Trecartin

No. 23 / Frühling 2010

Still aus »A Family Finds Entertainment«, 2004
Der Reisende im Jetzt

Gender Bending, Körperbemalungen, Perücken, Körper, Seelen, Es und Kinder – willkommen in der Welt des jungen amerikanischen Videokünstlers RYAN TRECARTIN. Ein Porträt von JENNIFER KRASINSKI


Die Beschreibung mag für einen Autor etwas Unumgängliches sein, aber wenn der vorliegende Gegenstand, für alle bewusst und frei zugänglich gemacht wurde, bedeutet jede Interpretation oder der Versuch einer Übersetzung eigentlich einen Verrat. Bevor ich daher beginne: Wenn Sie die Videoarbeiten des amerikanischen Künstlers Ryan Trecartin noch nicht kennen, legen Sie diesen Text beiseite und googlen Sie. Denn obwohl der Künstler seine Videos in Galerien und Museen zeigt, manchmal in Installationen mit Requisiten aus seinen Sets oder zusammen mit Skulpturen und anderen nicht-digitalen Arbeiten, hat er fast alle seine Videos online gestellt. Kein Grund also, sich durch die In-Crowd kämpfen zu müssen oder jahrelang auf eine fade aber ambitionierte Retrospektive zu warten. Nur ein paar Klicks, und Sie haben jeden seiner Titel vor Augen, von seinen frühesten Experimenten bis zu seinen jüngsten Epen; und damit einen ungewöhnlich direkten und intimen Zugang zum Werk eines zeitgenössischen Künstlers. Ein seltenes Vergnügen, das keine noch so bedacht vergossene Tinte jemals genau wiedergeben oder beschreiben könnte.

Ich sauge auf, dann übersetze ich, und dann gestalte ich.
(Ryan Trecartin


Trecartin gilt weithin als Produkt und Wunderkind unseres unerbittlichen digitalen Zeitalters. Als er 2005 in der Szene auftauchte, sprachen einige von ihm, als hätte er sich aus dem Äther materialisiert, wäre durch High-Speed-Kabel und Hyperlinks gekrochen, um unsere Bildschirme mit seinen faszinierend anarchischen Videos zu füllen. Das Publikum wunderte sich über die verstörenden Begegnungen mit Trecartins mechanischen, hyperbunten Charakteren, exotischen Geschöpfen, die im Nu-Slang jammern und so schnell durch Genre-Mash-Ups hindurch posieren, dass uns die Augen glühen. Und obwohl diese Welt außerirdisch erschien, bewies seine Vorliebe für die Vorstadtwelt, Secondhandkleidung, Materialien aus Bastelläden und Standard- Spezialeffekte, dass er von diesem Planeten stammt. Auffallend war auch die selbstverständliche Queerness der Bewohner von Trecartins Welt – Jungs? Mädchen? Was auch immer – was ihm den Ruf einbrachte, Retortenkind von experimentellen Wilden wie Jack Smith, John Waters oder Leigh Bowery zu sein, obwohl sein Gesicht abgeschminkt und von einem Pressefoto lächelnd, eher dem des jungen Jeff Koons ähnelt. 

Aber tatsächlich hat der 1981 geborene Ryan Trecartin echte Eltern und wuchs in Texas und Ohio auf dem Land auf (in gewisser Weise fremde Nationen, nehme ich an).Wenn er von seinem Leben erzählt, behauptet er, dass seine ersten Obsessionen Musik und Tanz waren. (Er nennt auch den Film »Dirty Dancing« als wichtigen Einfluss auf seine Arbeit.) Wie vielen in seiner Generation wurde ihm eine riesige Menge an Medienbildern, zuerst von der Kathodenstrahlröhre und dann vom Computerbildschirm, in sein Hirn gebrannt. Er erinnert sich, seine Babysitter beim MTV-Schauen beobachtet zu haben, und die starke Wirkung, die es auf sie hatte, auf die Art sich anzuziehen, zu sprechen und auf die Dinge, die sie sich wünschten. Im letzten Highschool-Jahr bekam er seine erste Videokamera. Im Herbst darauf begann er an der Rhode Island School of Design zu studieren und machte seine ersten Versuche in der Videokunst mit Kurzfilmen wie »Kitchen Girl« (2001) und »Valentine’s Day Girl« (2001), beides schnelle und verrückte Versuche über enttäuschte Weiblichkeiten (die Mutter, das einsame Mädchen), mit seiner Studienkollegin (und eine seiner engsten Mitarbeiterinnen) Lizzie Fitch in der Hauptrolle.

Danach kamen »Yo A Romantic Comedy« (2002), in der es um ein verdorbenes Paar Möchtegerns geht, die in Boulevardblatt-Sprache darüber streiten, ein Kind zu bekommen oder nicht (»Ich bin eine Mutterschaftshure «); »Wayne’s World« (2003), eine süße Satire auf Musikvideos mit Lizzie und Ryan in den Hauptrollen; und »What’s The Love Making Babies For« (2003), eine komödiantische Meditation über die Natur (und die fragwürdige Natürlichkeit) von Geschlecht, Sexualität und Reproduktion. In einer Sequenz blickt Trecartin in die Kamera während er sich abklebt, ausstopft, sich einen Anzug anzieht, einen Schnurrbart aufmalt und zu Gott Vater wird – ein Mann in männlichem Drag – als das Wort »Comercial« [sic] in pinker Handschrift über seinem Bild erscheint. »Niemand ist vollkommen«, erzählt er seiner Zielgruppe, »ich finde Gefallen an einem unterhaltenden Lebensstil. Also unterhaltet mich.«Hier mag Gott – obwohl ein schmieriger Hausierer – allliebend und allverzeihend sein, aber braucht doch hin und wieder etwas Interessantes anzuschauen.

Stills aus »A Family Finds Entertainment«, 2004
I-Be Area (Installationsansichten Elizabeth Dee Gallery, New York), 2007

Es war seine Abschlussarbeit »A Family Finds Entertainment« (2004), die nicht nur die Kunstwelt auf ihn aufmerksam machte – sie wurde auf der Whitney Biennial 2006 gezeigt –, sondern auch seinen Stil ausbildete, »Trecartinesia«, um einen Ausdruck des Schriftstellers Wayne Koestenbaum zu verwenden: Gender Bending, direkter Blick in die Kamera, falsche Grammatik, Körperbemalungen, Perücken, Körper, Seelen, Es und Kinder, das sind die Strategien und Themen, die sich immer wieder in seinen Arbeiten finden. Eine sehr knappe Zusammenfassung (denn »A Family Finds Entertainment« ist dicht und wild): Skippy – gespielt von Trecartin –, ein psychopathischer junger Mann verlässt seine eigene Party, windet sich, deliriert und schneidet sich vor dem Badezimmerspiegel in den Arm, bevor er nach draußen läuft und von einem vorbeifahrenden Auto getötet wird. An einem anderen Ort (aber wo genau ist immer die Frage) albern andere Übeltäter für die Kamera herum, während sie auf eine Dokumentarfilmerin warten, die sie filmen soll (oder nicht). Durchsetzt von gekonnt verwendeten, selbst-gebastelten Digitaleffekten – Bildüberlagerungen und kaleidoskopartige Verschachtelungen von Einzelbildern, die alle mit einem Rhythmus, einer Präzision und einer Aufmerksamkeit für Gesten geschnitten sind, dass sogar Bob Fosse beeindruckt wäre – hat »A Family Finds Entertainment« eine verstörende, desillusionierende Wirkung. Um den Strudel, in dem sich der Zuseher findet, noch zu beschleunigen, sprechen die Figuren Trecartins (meistens) direkt in die Kamera, egal ob sie mit jemandem anderen sprechen oder mit sich selbst. Es scheint nicht das übliche Verlangen nach Aufmerksamkeit zu sein, welches das Verhältnis von Trecartins Protagonisten mit der Kamera kennzeichnet – es ist viel zu entspannt, zu selbstverständlich (obwohl man sich als Zuseher angestarrt, herausgefordert und bedrängt fühlt). Man könnte sagen, dass Trecartins Figuren kaum noch in der Lage sind, sich zu beherrschen. Ist das einfach der Narzissmus der Online-Generation? Und ist Narzissmus die angemessene Bezeichnung? Verweist nicht eine in das allgemeine Verhalten übergegangene Pathologie diese Art von moralisierender Diagnose in ein Alt-Und-Daneben-Sein? 

Trecartins nächste große Arbeit, »I-Be Area« (2007), war sein erster Langfilm. Hier scheinen die Identität und ihre vielen Verwandlungen Trecartins Themen zu sein. »Originale« streiten mit Avataren und anderen alternativen Versionen ihrer selbst; Leben können gekauft oder gehandelt werden und zirkulieren fix und fertig in praktischen Transportkoffern; der Bedarf nach neuen Talenten in der Familie löst Online-Adoptionen aus, und die Namen klingen wie Versuche im Multi-Kulti-Branding: Progressica, Amerisha, Ramada Omar. Was aus diesem Chaos durchscheint, ist, dass diese Charaktere keinen Bedarf nach Geschichte haben, sie vermüllt nur die Festplatte. Leer’ mal den Mülleimer aus, Mensch. Herkunft gehört der Vergangenheit an. »Warum habe ich einen Bauchnabel?« fragt I-Be affektiert (gespielt von Trecartin), als er seinen Freunden seinen verspachtelten Nabel zeigt. »Er passt nicht in mein Leben. Also habe ich ihn zugeschmiert.« 

Es macht auch Spaß, in »I-Be Area« Trecartins wachsende Schar von Freunden und Mitarbeitern immer wieder auftauchen zu sehen, sowohl auf der Leinwand wie im Off (neben Fitch müssen sie auf Rhett LaRue,Veronica Gelbaum, Allison Powell, Raul DeNieves und verschiedene andere schillernde Charaktere achten). Im Gegensatz zu vielen anderen zeitgenössischen Künstlern, die mit Kurzauftritten von Celebrities arbeiten, erweitert Trecartin seine Truppe mit Freunden vom College, Kollegen und anderen verrückten Leuten, die er findet. Wie Warhol vor ihm, scheint er seine Truppe als Inspirationsquelle und Medium zu benutzen. Aber anders als bei Warhol, sind der Künstler und seine Darsteller oft bis zur Unkenntlichkeit bemalt und kostümiert und seine Großaufnahmen zeigen wenig bis keine Ehrfurcht für die Souveränität des Gesichts. Aber ist es nicht Anonymität, um die es heute geht? Und ist Celebrity nicht überhaupt so 20. Jahrhundert?

Ich will keinen Körper mehr. Scheiß auf den Körper. Ich will eine Seele. Und ich mach’ mir meine eigene Seele. Ich werd’ nämlich nicht warten, bis ich rausbekomme, ob ich eine habe oder nicht.
(aus »Sibling Topics«)


Letztes Jahr hat Trecartin drei neue Videos unter dem Titel »Trillogy Comp « präsentiert, die zu dem achtteiligen Epos »Any Ever« gehören: »K-Corea INC.K(SectionA)«, »Sibling Topics (Section A)« and »P.opular S.ky (section ish)«. Konsumismus und die Wirtschaftskrise sind diesmal zwei seiner Zielscheiben, sein Grundprinzip ist der Triller (in der Musik der schnelle Wechsel zwischen zwei Tönen). Seine falschen Homophonien vibrieren in einem unglaublichen Tempo und schaffen eines seiner bisher dichtesten und anspruchvollsten Videos. In einer Rede vor Studenten der Tyler School of Art anlässlich der ersten Jack Wolgin International Competition in the Fine Arts, die Trecartin gewonnen hatte, beschrieb er eine Software, die er gerne entwickeln würde. Sie würde es dem Zuseher ermöglichen, Namen von Charakteren oder Stichworte einzugeben, um bestimmten Erzählsträngen folgen zu können und »Ereignisketten Ihrer Wahl« zu schaffen. Das Vorhaben einer frei zugänglichen Kunst ist nicht neu, aber Trecartin würde damit in einem Markt, der auf Originalen und Editionen basiert, eine Armee an Avataren eines einzelnen Kunstwerks anbieten, von dem es dann so viele Versionen wie Betrachter gäbe. Und dort wären wir dann – der Künstler als Content Provider, wir die Zuschauer als Cutter, und jeder von uns würde seine eigene Desktopversion von Ryan Trecartin schaffen. Alle wären wir dann Künstler bei der Arbeit.


Stills aus »Siblings Topic (Section A)«, 2009

JENNIFER KRASINSKI ist Schriftstellerin und lebt in Los Angeles.

RYAN TRECARTIN, geboren 1981 in Webster, Texas. Lebt in Philadelphia. Letzte Einzelausstellung u.a. The Power Plant, Toronto (2010); Hammer Museum, Los Angeles (2008); I-Be Area, Elizabeth Dee Gallery, New York (2007); I Smell Pregnant, QED, Los Angeles (2006). Zu seinen letzten Ausstellungsbeteiligungen zählen u.a. Virtuoso Illusion: Cross Dressing and the New Media Avant-Garde, MIT/List Visual Arts Center, Cambridge (2010); 100 Years (version #1), Number Three: Here and Now, Julia Stoschek Foundation, Düsseldorf; 100 Years (version #2), P.S.1, New York; The Generational: Younger than Jesus, The New Museum, New York; Installations II: Video from the Guggenheim Collections, Guggenheim Museum, Bilbao (2009); Busan Biennale, South Korea; (2008); Between Two Deaths, ZKM Karlsruhe (2007);Whitney Biennial, Day for Night,Whitney Museum of American Art, New York (2006). 


Vertreten von Elizabeth Dee, New York; Angstrom Gallery, Los Angeles /Dallas