
»Ich will keine Dinge, sondern Ideen hinterlassen«
Er ist als »Koch-Künstler« berühmt geworden – ein Missverständnis, das die wirklichen Fragestellungen seiner Arbeit seit gut 20 Jahren nahezu verdeckt. Darüber, und über seine immer wieder überraschende Weise, die westliche Kultur mit der Geisteshaltung seiner Heimat Thailand kritisch gegenzulesen, hat Raimar Stange sich mit RIRKRIT TIRAVANIJA via E-Mail unterhalten.
Über die Möglichkeiten und Grenzen solcher eben auch affirmativen Beziehungsarbeit in einen politisch prekären Kontext habe ich Tiravanija unter anderem befragt.
RAIMAR STANGE: Wann hattest du die Idee zu deinen »Koch-Situationen«?
RIRKRIT TIRAVANIJA: Ich ging den West Broadway entlang, auf dem Weg in eine Galerie, wo ich zu einer Gruppenausstellung eingeladen war (kuratiert von Robert Longo). Ich dachte über die ganze Situation nach, dass meine Arbeit in New York das erste Mal ausgestellt wird. Der Erfolgsdruck schien mir enorm, und so entschied ich mich für das Gegenteil, nämlich es entspannt anzugehen. Ich wollte etwas machen, das mir sehr vertraut und Teil meines Alltags war. Bei meiner ersten Koch-Arbeit ging es anfangs gar nicht ums Kochen (es geht eigentlich nie ums Kochen!), sondern eher um eine (Art) museologische Kritik. Es ging um kulturelle Fragmentierung (das Entfernen oder die Verschiebung kultureller Artefakte von einem (dem ursprünglichen) Kontext in einen anderen, zum Beispiel vom Osten in den Westen (aus meiner Perspektive)). Es ging um die Neubelebung bestimmter Strukturen, darum, die Verschiebung des Kontexts anzusprechen und Objekten ihre Alltäglichkeit zurückzugeben, die in eine bestimmte Sphäre kultureller Werte aufgenommen wurden, wie zum Beispiel die Elgin Marbles im British Museum oder – näher an meiner Herkunft – die Buddha Statuen und Keramiken in allen möglichen Museen des Westens.




Serpentine Gallery, London 2005, Courtesy neugerriemschneider, Berlin
STANGE: Bei »Skulptur.Projekte 1997« in Münster hast du überraschend ein Marionettentheater präsentiert. Wie kam es dazu, was war die Idee?
TIRAVANIJA: Das gefällt mir! Überraschend! Ich hätte gerne eine Überraschung nach der anderen und will nicht zu viele Erwartungen erfüllen. Manchmal erfülle ich sie, aber wenn man genauer hinsieht, gibt es Überraschungen. Ich dachte über die Menschen nach, die in Münster leben und dass sie wahrscheinlich eine Hass-Liebe zu dieser Ausstellung haben, weil alle zehn Jahre ihr Park (Natur) in einen Kulturpark (Skulptur) verwandelt wird. Ich begann zu recherchieren, auch die dunklen Seiten des Ortes, und fand heraus, dass es um den Zoo in Münster viele Auseinandersetzungen gab. Der Gründer des Zoos war ein Priester, der sich für Biologie interessierte, was im Widerspruch zum christlichen Schöpfungsmythos stand, und weshalb er exkommuniziert wurde. Aber in dieser christlichen Stadt gab es einen Verein, der Geld für den Zoo aufstellte. Der Verein veranstaltete Theateraufführungen, bei denen sich Männer verkleiden und Frauenrollen spielen und umgekehrt und sich alle auf der Bühne betrinken – mit anderen Worten, es ist wild und unkontrolliert. Ein Stück handelte von der Geschichte einer Bauernfamilie. Die Eltern wünschten sich, dass ihr Sohn (der einzige Sohn) den Hof übernimmt, aber er weigerte sich, weil er Künstler werden wollte. Er verließ den Hof und ging nach Münster. Der Hof wurde an seine Schwester und ihren Ehemann übergeben, aber nach einiger Zeit gerieten sie in Schwierigkeiten und verschuldeten sich. In dieser ausweglosen Situation, in der die Familie Gefahr lief, den Hof zu verlieren, erfuhr der Sohn in der Stadt davon. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits ein erfolgreicher Künstler. Er kehrte nach Hause zurück und rettete mit dem Reichtum, den er inzwischen angehäuft hatte, den Hof seiner Familie. Ja, der Künstler war die Rettung! Das war damals eine Überraschung, da bin ich mir sicher! Ich wollte auch, dass meine Arbeit die Menschen vor Ort einbindet, umdie Distanz zwischen der Stadt und den Besuchern zu verringern. Also hatte ich die Idee,mit einer Schule zusammenzuarbeiten, die sich in der Nähe des Alten Zoos befand (der schon vor langer Zeit verlegt wurde). Ich entschied mich für ein Marionettentheater, weil ich nach einer Form suchte, die zugleich skulptural war und den Spielern die Darstellung erschwerte. Ich dachte, es könnte Chaos erzeugen und den Eindruck von Betrunkenheit, vielleicht!
TIRAVANIJA: Genauso wichtig wie das Publikum in die Arbeit miteinzubeziehen. Ich bin nicht an Autorschaft interessiert. Mich interessieren die Möglichkeiten, die entstehen, wennMenschen ihre Ideen zusammenbringen. Es gibt Ideen in der Kulturwelt, die ich für so bedeutend und wichtig halte, sie zu zitieren und/oder wieder zu zeigen und neu zu bearbeiten. Und ich denke auch, dass es immer Ideen gibt, über die man neu nachdenken sollte. Schließlich ist die Zeit eine Struktur, die immer fortschreitet. Ich bin nicht daran interessiert, Dinge (irgendetwas) zurückzulassen. Mich interessiert es, Ideen zu hinterlassen. Wie ein gutes Rezept, jeder kennt es, weiß, wie es schmeckt und wie man es nachkocht – vielleicht sogar ein bisschen abgewandelt. Oder vielleicht ist es die Grundlage für etwas ganz anderes, eine Möglichkeit.


Courtesy of the artist and Gavin Brown's enterprise


Courtesy the artist and Gavin Brown's enterprise
TIRAVANIJA: Ich kann mit Rahmen ganz gut leben, aber auch damit, nicht in einen Rahmen gesteckt zu werden. Man arbeitet als ein lebendes, atmendes Subjekt. Man bewegt und ändert sich durch Erfahrung (hoffentlich). Ich denke, es ist mittlerweile klar, dass alles relational ist, sogar Computerpixel. Allerdings hatte ich immer ein Problem mit Ästhetisierungen. Für mich ist auch das eine Kluft, die ich versucht habe abzubauen. Ästhetik ist ein westliches Konzept. Es trennt das Subjekt vom Objekt, und wie ich schon sagte, gibt es für mich diese Unterscheidung nicht.
TIRAVANIJA: Nicht viel, aber doch sehr viel. »The Land« existiert nun schon seit über zehn Jahren. Es erfüllt verschiedene Sehnsüchte: einerseits nach einem sicheren Zuhause – einem Ort, um sich auszuruhen, aber auch einen Ort des Denkens und des Austauschs außerhalb der gewohnten Sphären, der Wunsch nach einem Rückzugsort außerhalb des Rasters. Und auf der anderen Seite, die Sehnsucht, mit dem Lebendigen zu experimentieren – mit holistischen Ideen, ohne Idealismus, ohne Besitz, ohne Eigentum und vor allem ohne Erwartung. Es ist je nach Jahreszeit tatsächlich ein Reisfeld aber auch ein Ort der Kontemplation. Es ist eine Landschaft, auf der man agieren kann, eine Oberfläche, auf der man Modelle bauen kann und ein Tisch, an dem man sich trifft. Aber all das ist es nur, wenn es das Bedürfnis und den Willen für solche Interaktionen gibt. Es liegt brach, wenn es kein Wasser gibt, es wächst üppig, wenn der Regen fällt, und es ist unmöglich zu bewirtschaften, wenn die Ebene überflutet ist. Es verkörpert die Sehnsucht vieler, aber vor allem ist es eine Möglichkeit. Es ist, was viele sich darunter vorstellen, jenseits seiner Realität. Dennoch, es ist da und hat viele seiner Potenziale ausgeschöpft und andere verfehlt. Es wurde gebaut, und es ist zusammengebrochen, aber es werden wieder Leute kommen und an beidem arbeiten, den Fehlern und den Erfolgen.
STANGE: Beeinflusst oder verändert das Unterrichten deine künstlerische Praxis?
TIRAVANIJA: Es beeinflusst mich, aber ich würde nicht sagen, dass es meine Praxis verändert. Eher sehe ich es als wesentlichen Teil von ihr. Ich interessiere mich für den Austausch und die Möglichkeiten mit anderen zu denken und zu arbeiten. Zu Unterrichten ist Teil dieser Beziehung. Es hat seine Geschwindigkeit und seine Dauer, und ich möchte diese Art von Zeit verbringen, mit Denken und Sprechen.

STANGE: Über die letzten paar Jahre wurde deine Arbeit zunehmend politisch. Ich denke hier zum Beispiel an die »Demonstration Drawings« (2001–07) ebenso wie an das Transparent und die Buttons, wo du fragst: »Where is Ai Weiwei« (2011). Wie erklärst du diese Entwicklung in deiner Arbeit?
TIRAVANIJA: Mein Zugang zum Kunst-Machen (und seinem Potenzial) war immer ideologisch, und ich war auch sicherlich immer skeptisch gegenüber institutionellen Strukturen oder Grenzen. Das bedeutet nicht, dass ich jenseits der Strukturen arbeite oder lebe, aber ich tue das sicher instinktiv mit Zweifel. Die politische Spaltung in Thailand beeinflusste diese Einstellung. Natürlich sind China und Thailand in vielerlei Hinsicht unterschiedlich, aber der Machtmissbrauch und der Missbrauch von Information (Disinformation) in beiden Ländern ähneln einander bis zu einem gewissen Grad. Die Rhetorik und die Manipulation der Medien, obwohl offensichtlich, sind höchst polarisierend. Der Kampf um die Zukunft des Landes findet jetzt gerade statt, und die Frage nach einer neuen Republik beschäftigt jeden. Meinungen, versteckte Andeutungen und Gerüchte kursieren überall, und das Bedürfnis nach einer neuen Verfassung ist ein großes Thema. Aber ist das nicht in vielen Teilen der Welt der Fall? Überall spüren wir, wie sich die Machtverhältnisse verschieben. Wie könnten wir das nicht ansprechen, sogar mit Ironie!
STANGE: Eine letzte Frage: Was liest du gerade?
TIRAVANIJA: Roberto Bolaño, »The Insufferable Gaucho «; Július Koller (ein von Roman Ondák zusammengestellter Katalog); Simon Garfield »Just My Type. A book about fonts«; Roberto Bolaño »Between Parentheses: Essays, Articles and Speeches 1998–2003«; Tom Mueller »Extra Virginity: The Sublime and Scandalous World of Olive Oil«; »Golf Digest«, die Februar Ausgabe mit der »Hot List« zum neuesten Golf-Equipment.
Aus dem Englischen von Stefan Tasch
RAIMAR STANGE ist Kritiker und Kurator. Er lebt in Berlin.
RIRKRIT TIRAVANIJA, geboren 1961 in Buenos Aires. Lebt zwischen New York und Chiang Mai, Thailand. Letzte Einzelausstellungen u.a. Fear Eats the Soul, Gavin Brown’s enterprise, New York (2011); Pilar Corrias, London (2010); Chew the Fat, neugerriemschneider, Berlin (2009); Less Oil More Courage, Kunsthalle Fridericianum, Kassel (2009). Letzte Ausstellungsbeteiligungen u. a. The Last Newspaper, The New Museum, New York (2010); Compass In Hand, Museum of Modern Art, New York (2009); Re-Imagining Asia, Haus der Kulturen der Welt, Berlin; theanyspacewhatever, Solomon R. Guggenheim Museum, New York (2008).
Vertreten von Gavin Brown's Enterprise, New York; Pilar Corrias, London;
Neugerriemschneider, Berlin; Galerie Chantal Crousel, Paris; 1301PE Gallery, Los Angeles; Kurimanzutto, Mexico City; Gallery Side 2, Tokyo


