JK

The Pfaff Brothers

No. 31 / Frühling 2012

Liebesbrief


In einem Berg Papier sind immer Liebesbriefe zu finden, wenn auch nicht unbedingt in ihrer klassischen Form. Manchmal sind sie verkleidet als Liebe für eine Kopiermaschine oder Liebe, die man durch einen Kopierer schickt, als eine heimliche Romanze, gewickelt in die Werbung einer Möbelspedition, oder als dicker Stapel Lanvin-Karten, die nach Arpège duften (denn will sie den Mond, gib’ ihr Arpège!). Ein Stoß Papier und Briefe – so ein Hunger, den wir mit unserer Zeit stillen.

Und dann fanden wir uns auf diesem Brief-Konzert wieder, R. Kellys Tour »Love Letter«. Vielleicht war es in Atlanta oder in St. Louis – wir wussten nicht, wie wir dorthin kamen, sondern befanden uns einfach dort. Die Spur hin oder wieder weg hatten wir verloren. Egal, die Erfahrung dieses Augenblicks wird seither ohnehin von den Videos des Konzerts verdrängt, die wir uns jeden Tag auf unserem Laptop anschauen. Die meisten Aufnahmen wurden mit wackeliger Hand über den Köpfen des Publikums gemacht, in einem Sportstadion, in dem auch R’n’B Spektakel stattfinden. Jedenfalls haben wir jetzt alles auf unserem Schirm, diesem flachen Theater unserer verblichenen Erinnerungen. Hin und wieder stand die Kamera aber dann doch fest, und die Aufnahme ist ruhig. Diese Bilder befreien uns zum Glück von der Seekrankheit der schwankenden Optik.

Die zwei Frauen vor uns waren anscheinend Zwillinge. Als sie uns bemerkten, waren sie wohl enttäuscht. Ihre Ähnlichkeit war ganz offensichtlich nicht so perfekt wie unsere. Da standen wir. (Wo eigentlich?) Es tat uns ja selbst leid, aber wir fanden keine Worte, die sie als »Entschuldigung « verstanden hätten. Jedenfalls wichen sie uns von da an aus und nippten bloß mit ihren feuchten Lippen an ihren Eimern voll Mountain Dew.

R. Kelly, Love Letter Tour, 2011

Wir verschlingen Briefe. Das ist mehr als nur Lesen, oder zumindest etwas anderes. Alles an einer Seite muss aufgesaugt werden, nicht nur verstanden. Und zu erklären, was man sieht, hat damit nichts zu tun. Manche Liebesbriefe pulsieren, der von R. Kelly (in der Gestalt eines Konzerts) hämmerte. Und während Briefe doch meistens an jemanden gerichtet sind, hatte der von R. Kelly nicht einmal einen Empfänger (zu subjekttrunken). Jeder, der wollte, durfte ihn aufmachen. Mit all diesem vor Schmalz triefenden Gefühl um einen nicht vorhandenen Plot herum wurden die LCD-Screens hinter ihm zu Fortsetzungen von Flauberts Ideen, der sich 143 Jahre zuvor den Versäumnissen und Abgründen von Frédéric Moreau widmete. R.s Lippen füllten die Screens, deren kleinste Bewegungen eine Szene evozierten, in der sich zwei Nacktschnecken gegenseitig befummeln. Der Duft von Mountain Dew war perfekt und ekelhaft. Wir hätten den Zwillingen gerne für diesen Duft gedankt, aber dann wiederum hatten wir Zweifel, dass sie unsere Botschaft richtig verstehen würden.