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Capacete Entretenimentos

No. 22 / Winter 2009

Blick von Santa Teresa auf Rio de Janeiros Zentrum

Tropische Intelligenz


Wie in den Straßen und auf den Stränden Rios lösen sich die Grenzen zwischen Öffentlichem und Privatem im Universum von Capacete Entretenimentos auf. So wird Raum geschaffen für die sich stets verändernde Capacete-Gemeinschaft. PABLO LÉON DE LA BARRA über das Kunstprojekt von HELMUT BATISTA.

»Tropische Länder, so schien es mir, müssen das genaue Gegenteil unserer eigenen sein …« – Claude Lévi-Strauss, Traurige Tropen

36 Grad in Rio de Janeiro, es ist heiß, sehr heiß. Ich schwitze so stark, dass ich bald zerfließe und mich auflöse. Der Schweiß und die Hitze machen mir bewusst, dass ich einen Körper habe. Es gibt keinen Unterschied mehr zwischen Innen und Außen, und ich spüre meine »innere Unermesslichkeit«1, wie Gaston Bachelard es genannt hat. Ich habe zu denken aufgehört. Während meiner Spaziergänge durch das Stadtzentrum habe ich mir alle zehn Minuten einen schattigen Platz oder ein Lokal mit Klimaanlage gesucht, um einen chope, ein Bier, zu trinken. Es ist Samstag und alles ziemlich leer. Schon allein die Vorstellung an meinen halbstündigen, steilen Fußmarsch hinauf zu meiner Unterkunft in Santa Teresa lässt mich verzweifeln. Zum Glück gibt es private Motorradtaxis, die einen für zwei Reais den Hügel hochfahren. Das ist Tropische Intelligenz! Die Fahrer warten vor der U-Bahn-Station Glória; dort fragt man den Kontrolleur und bekommt einen Fahrer zugewiesen. Der Fahrer setzt sich seinen Helm auf, ich bekomme keinen angeboten. Man steigt aufs Motorrad und versucht zu entscheiden, ob es besser ist sich an den Schultern oder an der Taille des Fahrers festzuhalten. Er rast den Hügel hinauf, raucht dabei eine Zigarette und telefoniert mit seinem Handy über Mikro und Kopfhörer. Wenn wir in die Kurven gleiten, berühren unsere Knie fast das Steinpflaster. Ich umklammere die Taille des Fahrers und presse meine Knie fest an ihn. Es ist eine sehr erotische Erfahrung. Er setzt mich am Largo do Guimarães im Zentrum des Santa-Teresa-Viertels ab. Ich gehe in ein portugiesisches, blau gefliestes Geschäft und frage das alte portugiesische Ehepaar, das den Laden betreibt, nach einer sehr kalten Kokosnuss. Die Kokosnuss kostet auch zwei Reais (die besten Dinge in Rio kosten scheinbar zwei Reais!). Kalte Kokosnüsse sind eine weitere Strategie Tropischer Intelligenz – ein Mittel, um die Hitze zu überleben! Der Mann öffnet die Kokosnuss mit einem Rundmesser, das eher wie die Erfindung eines Häftlings aussieht, während seine Frau ein paar französische Touristen anbrüllt, die den Laden fotografieren wollen. »Sie würden sie doch auch nicht in Ihrem Haus Fotos machen lassen, oder?«, sagt sie zu mir.

Santa Teresa ist ein altes Viertel in den Hügeln über dem Zentrum Rios. Es sieht aus wie ein europäisches Dorf Ende des 19. Jahrhunderts, viele der Häuser sind schon etwas heruntergekommen, aber die meisten konnten sich der totalen Zerstörung widersetzen. Santa Teresa hat ein bisschen was von einem Hippie-Viertel und entwickelte sich in letzter Zeit zur Lieblingsgegend von Künstlern und Intellektuellen, wie auch von Fremden, die die Häuser nach und nach gekauft und renoviert haben. Mittlerweile gibt es sogar ein kleines Designhotel im Viertel. Die alte Straßenbahn, der bonde, kommt vom Zentrum herauf, überquert das Lapa-Aquädukt und kostet 65 Cent pro Fahrt. Meistens gibt es während der Fahrt irgendeinen technischen Defekt, und nicht immer erreicht die Tram ihr Ziel (gegen einen Plan zur Privatisierung des bonde, dessen Umsetzung zwar den Service verbessert, aber auch den Fahrpreis erhöht hätte, protestierten die Bewohner des Viertels). Tritt wirklich der Fall ein, dass die Tram stillsteht, nützen alle Fahrgäste, ob brasilianische oder internationale Touristen, die Gelegenheit um auszusteigen und Fotos zu machen. Vielleicht, wie Lévi-Strauss meint, sind »die Tropen weniger exotisch als altmodisch. Man erkennt sie nicht an der Vegetation, sondern an winzigen architektonischen Details und an der Suggestion einer Lebensweise, die mich weniger davon überzeugt, dass ich unendliche Räume durchquert habe, als dass ich unmerklich in eine andere Zeit zurückversetzt worden bin.« Falls das stimmen sollte, schaltet die Realität von Rio de Janeiro sehr schnell auf fast forward und versetzt einen in die Gegenwart zurück. Wie fast überall in Rio befinden sich auch die Häuser in Santa Teresa in der Nähe von Favelas. Jedes Mal, wenn ich dort bin, scheint es in Santa Teresa ein Verbrechen oder einen Toten in Verbindung mit dem Drogenhandel zu geben. So auch dieses Mal: jemand erzählte mir, dass eben ein Tänzer ermordet worden sei. Ich fragte, ob es sich um ein Drogenverbrechen handelte; ironischerweise hörte ich dann, dass der Tänzer von seinem Bruder und dessen Geliebten mit einem Vorschlaghammer getötet worden war. Brasilianische Seifenoper.

Helmut Batista mit seiner Frau Denise und Sohn Otto

In Santa Teresa ist auch das Hauptquartier des von Helmut Batista betriebenen Kunstprojekts Capacete Entretenimentos. Der Name steckt voller Humor: capacete bedeutet auf Portugiesisch »Helm«, in Englisch »helmet«, und ist ein Wortspiel mit dem Namen von Helmut, dem Kapitän des »Microstate Capacete Village«. Und das Projekt führt interessanterweise den Zusatz »Entretenimentos« im Namen, nicht »Galerie«, nicht »Projekte«, sondern »Vergnügungen«, »Entertainment«. »Die Aktivitäten von Capacete sind Teil einer langen interdisziplinären Präsenz in Rio de Janeiro, mit dem Ziel, ästhetische, soziale und politische Prozesse in Brasilien zu erforschen und zu dokumentieren. Der historische, urbane, topografische, umweltbezogene und gesellschaftliche Kontext von Rio de Janeiro ist ein wichtiges Laboratorium, das brasilianische Komplexitäten (re)konkretisiert. Rio de Janeiro ist ein strategisches Werkzeug zur Identifizierung, Artikulation und Sichtbarmachung dieser Prozesse, indem sehr heterogene Rezipientenkreise erreicht werden können.«2

Zum erstem Mal kam ich 2001 in Kontakt mit dem Projekt. Damals teilte sich Capacete im Stadtteil Cinelândia einen Ausstellungsraum mit Agora (betrieben von Ricardo Basbaum und anderen Künstlern), über dem sich Ateliers befanden. Seitdem hat sich Capacete ständig neu erfunden, ist mit der Zeit gegangen, hat Rios Kulturleben bereichert und eine Vermittlerrolle zwischen ausländischen Künstlern und der Stadt eingenommen. Dementsprechend gibt es verschiedene Inkarnationen davon: In der Darcy-Ribeiro-Filmschule organisierte man zum Beispiel von 2001 bis 2006 als »Cinema Capacete« Filmprogramme von Künstlern; die billig produzierte Zeitschrift »Planeta Capacete«, die von 2001 bis 2004 erschien (bevor das WWW Informationen so leicht für alle zugänglich machte), setzte Konzepte von verschiedenen eingeladenen Künstlern um, und berichtete für und über die lokale Kunstszene. Capacete nahm auch mehrmals an der Biennale von São Paulo teil und präsentierte dort Projekte von Künstlern, die die Arbeit von Capacete erweiterten.

Ausstellungsansicht »Micro-State Capacete«
Capacete nimmt auch internationale Künstler und Kuratoren auf und sorgt für deren Unterbringung und Betreuung. Einigen der Artists-in-Residence wird der Aufenthalt von Kulturinstitutionen in ihren jeweiligen europäischen Herkunftsländern finanziert, andere kommen auf eigene Initiative, weil sie die Erfahrung machen wollen, in tropischen Verhältnissen zu leben. Wichtig für das Konzept von Capacete ist, dass es immer einen brasilianischen und einen lateinamerikanischen Gast gibt. Manche Gäste werden in der »Casa da Denise« untergebracht, andere in benachbarten Bungalows oder in einem Apartment in Glória, wo sich das Dokumentationszentrum und die Büros von Capacete befinden. Unlängst hat Capacete nach São Paulo expandiert und dort das ursprünglich von Ligia Nobre und Cécile Zoonens initiierte Projekt »Exo São Paulo« fortgeführt. Es wurden Aufenthaltsmöglichkeiten im Edifício Copan geschaffen, dem von Oscar Niemeyer entworfenen, wellenförmigen, modernistischen Gebäude im Zentrum der Stadt. Gastkünstler werden eingeladen, in einem offenen Dialog mit einem Künstler aus São Paulo vor der ansässigen Kunstcommunity einen Vortrag zu halten.

Publikationen von Capacete

Die Erforschung lateinamerikanischer Kontexte führte über die Grenzen des Capacete-Mikrostaates hinaus: »Road« ist ein mit Unterbrechungen betriebenes Projekt einer Autoreise, die 2004 mit dem Künstler Ducha als Fahrt von Rio nach Santiago de Chile begann, mit Carla Zaccagninis »Museu das Vistas« nach Valparaíso, Chile, fortgesetzt wurde, mit Olivier Poujade hinauf nach La Paz, Bolivien, führte, mit João Modé weiter nach Lima, Peru, ging, von dort nach Quito, Ecuador, wo Gabriel Lester eine Pantomime vorführte, bei der er vor dem Hintergrund der Andenkordilleren ein Karnickel aus einem Hut zog, und dann mit Julia Rometti und Victor Costales mit der Fahrt nach Medellín, Kolumbien, endete, währenddessen die Künstler Landschaftsposter austauschten. Die nächste Etappe wird mit Sebastián Ramírez und José Tomás Giraldo von Medellín nach Caracas, Venezuela, führen. Anlässlich des zehnjährigen Bestehens brachte Capacete die Publikation »Livro para ler« heraus, mit Beiträgen von elf Künstlern und Kuratoren, die mit Capacete gearbeitet haben. Das Buch folgt einer von Carla Zaccagnini entwickelten Methode, nämlich Minikataloge zu produzieren, in denen sie Künstler oder Autoren einlädt, nicht über ihre (Zaccagninis) Arbeit zu schreiben, sondern über Ideen, die darin enthalten sind oder einen Bezug zu den Werken aufweisen. 

Artist-in-Residence Studio
Capacete Dokumentationszentrum

Helmut fotografiert nebenbei auch Panoramaansichten von Rio de Janeiro für Postkarten und großformatige Bildbände, deren Einkünfte Capacete mitfinanzieren. Denise, Helmuts wunderbare Partnerin und Mutter des gemeinsamen Sohnes Otto, war früher eine Schauspielerin in Seifenopern. Sie betreibt die »Casa da Denise«, eine Frühstückspension in Santa Teresa, die ebenso die Aktivitäten von Capacete unterstützt. Denise und Helmut teilen sich nebenan ein Haus mit der befreundeten Künstlerin Dominique Gonzalez-Foerster, die es »SET – Sitio de Experimentación Tropical« nennt. Das Haus hat einen schwarz-weißen Mosaiksteinboden, inspiriert von Roberto Burle Marxs Pflastermustern der Copacabana. Eine rosa Balustrade trifft auf grünes Gras, ein Widerhall auf die Farbkombination der Mangueira-Sambaschule. Der Blick geht auf die Guanabara-Bucht, den Pão de Açúcar, die Stadt darunter, Favelas, Vegetation. In Dominiques Worten »ein Ort, um die Effekte der ›Tropikalisierung‹ zu beobachten, zu genießen und zu beschreiben […]. Das Panorama von der Terrasse aus ist ein permanenter ungeschriebener Roman über das urbane tropische Leben, Zuckerhut, Vögel, Flugzeuge […].«3 Gäste und Künstler pendeln zwischen der Unterkunft in Glória, der »Casa da Denise« und dem »Sitio de Experimentación Tropical«: Arbeit im Büro, Frühstück in der »Casa da Denise«, intellektuelle Gespräche und Caipirinhas am Swimmingpool beim SET. Wie in den Straßen und auf den Stränden Rios lösen sich die Grenzen zwischen Öffentlichem und Privatem auf, es wird Raum geschaffen für die sich stets verändernde Capacete-Gemeinschaft.

Terrasse von Dominique Gonzalez-Foersters »SET«

Bei seiner Brasilienreise im Jahr 1982 erkannte und befürwortete der Philosoph Félix Guattari selbst organisierte, basis- und praxisorientierte Strategien als ein Mittel zur Stärkung der brasilianischen Gesellschaft, damals noch unter einer Militärdiktatur (1964–1985): »Ebenso wie ich denke, dass es illusorisch ist, eine Schritt-für-Schritt-Veränderung der Gesellschaft anzustreben, bin ich der Ansicht, dass mikroskopische Bemühungen der Gemeinschaft […] eine durchauswesentliche Rolle spielen.«4 Im Bezug auf Kunstpraktiken haben der Kurator Carlos Basualdo und der Kunstkritiker Reinaldo Laddaga in diesem Sinn von »experimentellen Gemeinschaften« gesprochen, von »temporären, aber stabilen Zusammenschlüssen von Künstlern und Nichtkünstlern bei ihren gemeinsamen Bestrebungen. […] Das Anliegen besteht darin, die Schaffung von Austauschnetzwerken zwischen verschiedenen Gruppen zu fördern, um neue Repräsentationsformen und Gemeinschaften zu etablieren. Diese Zirkel wiederum greifen in traditionelle Kunsträume ein, wodurch eine ›Globalisierung von unten‹ bewirkt wird.«5

Die von Capacete betriebene Herausbildung einer mobilen internationalen Gemeinschaft steht der Vorstellung der »suprasensorischen« Kommune des Künstlers Hélio Oiticica sehr nahe: »Ich spüre, dass die Idee zu einer Notwendigkeit wird, dass eine neue Gemeinschaft entsteht, deren Basis kreative Affinitäten bilden, trotz kultureller, intellektueller, sozialer oder individueller Differenzen. Nicht eine Gemeinschaft, um ›Kunst zu machen‹, sondern etwas wie die Erfahrungen im richtigen Leben – alle möglichen Arten von Erfahrungen, die eine neue Wahrnehmung von Leben und Gesellschaft herausbilden könnten –, in gewisser Weise eine Umgebung für das Leben selbst schaffen, basierend auf der Annahme einer allen Menschen eigenen kreativen Energie […], eine Umgebung, in der diese meine Gruppe Dinge tun würde, reden, Leute treffen – natürlich müsste viel Unangenehmes kontrolliert werden, da destruktive Meinungen und uninteressierte Leute auftauchen würden, aber das passiert bei allem, was man machen will –, als Ganzes wäre es die Idee eines in gewisser Weise offenen Raumes, einer Umgebung für Erfahrungen, für kreative Erfahrungen jeder nur erdenklichen Art […].«6

Casa de Denise
Residents Barbecue

Auch der operative Zugang von Capacete, etwas zu produzieren oder auch nicht und sich damit der Ökonomie des Kunstmarktes zu widersetzen, ähnelt einem Konzept von Oiticica, nämlich seinem »crelazer«, einem Neologismus, in dem die Wörter »crer« (glauben) und »lazer« (Freizeit) anklingen. »Keinen bestimmten Platz in Raum und Zeit einzunehmen, im Genuss zu leben oder keine Faulheit zu kennen, das ist und kann eine Aktivität sein, der ein ›Schöpfer‹ sich widmet.« Damit steht »crelazer« der Idee der »Tropischen Intelligenz« nahe, die die Arbeit von Capacete bestimmt. Den Begriff »Tropische Intelligenz« habe ich einem Gespräch zwischen Helmut Batista und Paulo Vivacqua entnommen, in dem sie sich über ihre Erfahrungen beim »Puerto Rico 04 Art Community Experience Marathon« unterhielten, an dem sie zwar teilnahmen, jedoch ohne etwas zu produzieren. Paulo Vivacqua dazu: »Ich denke, indem wir nichts gemacht haben, waren wir superehrlich. […] Nichts zu tun bedeutet sehr oft, viel zu tun. Wir haben eine Balance in der ganzen Sache gefunden, denn wenn nicht, wäre ich schizophren geworden. Tropische Intelligenz.« Darum geht es also letzten Endes bei »Tropischer Intelligenz«: dem Drang widerstehen, Dinge nur um des Tuns willen zu tun, und nur das machen, was notwendig ist, während man auf einen Kontext reagiert. Und flexibel genug sein, um produzieren zu können, was verlangt wird, während man neue Handlungsmöglichkeiten erschließt, aber sich auch von der Produktionsmaschinerie frei machen und sich wieder des eigenen Körpers und des Körpers des anderen bewusst zu werden. Und sich selbst gestatten, eine Konversation in der »inneren Unermesslichkeit« zu führen, während man sich dem anderen zuwendet – ohne den belastenden Druck der »normalen« Kunstwelt ….









PABLO LÉON DE LA BARRA ist Künstler und Kurator. Er lebt in London. 

Aus dem Englischen von Martin Gastl