Dem White Cube entronnen

Spielzueg und Objekte gesammelt von Eduardo Paolozzi, 1950s-1970s

Als wäre man in einem öffentlichen Privathaus unterwegs. Raven Row ist ein außergewöhnlicher Ausstellungsraum im Osten Londons, eröffnet vom Sammler ALEX SAINSBURY. Von DANIEL BAUMANN

»Ich habe großen Respekt vor dem Markt – er ist der wichtigste Generator visueller Kultur – aber gleichzeitig ist es interessant, was Kunst außerhalb dieses Kontextes leisten kann. Dieser Raum kann etwas, was kommerzielle Räume nicht können.« Alex Sainsbury


Bis in die 80er Jahre wurde die zeitgenössische Kunst von wenigen Galerien, Sammlern, einigen Kunsthallen, Kritikern und den Künstlern selbst vermittelt. Mit dem wirtschaftlichen Boom tauchten nicht nur neue Akteure, Interessen und Konsumenten auf, sondern es gerieten auch scheinbar feste Rollenvorstellungen und -zuordnungen durcheinander. Heute spielen große Galerien nicht wie noch in den 90er Jahren auf dem Niveau von Kunsthallen, sondern sind auf der Ebene der Museen angelangt: Gagosians historische Shows etwa werden an denen des MoMA gemessen. Sammler sind nicht mehr nur Leihgeber, sondern bauen selbst spektakuläre Museen und wollen für innovative Ausstellungsprogramme verantwortlich sein, Auktionshäuser betreiben Galerien (Sotheby’s Haunch of Venison), Kunstimpressarios wie Jeffrey Deitch werden Museumsdirektoren, Trustees bestimmen das Ausstellungsprogramm der Institutionen. Dabei geht es im Idealfall immer darum, neue Formen des Zugangs zu Kunst zu ermöglichen. Die von der öffentlichen Hand getragenen, traditionellen Institutionen hinken diesen Entwicklungen hinterher, was bis zu einem gewissen Grad verständlich ist, da sie einem komplexen, langfristigen gesellschaftlichen Auftrag verpflichtet sind, während in den letzten Jahren primär der große Auftritt im Vordergrund stand. Im Schatten der Show begannen jedoch einige, auch wohlhabende Leute, nach Alternativen zu suchen und Räume aufzubauen, in denen die Kunst, ihr Denken und ihre Möglichkeiten im Zentrum stehen.

Alex Sainsbury ist einer davon. Er ist der Sohn des Besitzers der gleichnamigen britischen Supermarktkette und eröffnete vor etwas mehr als einem Jahr in London den Ausstellungsraum Raven Row mit der ersten umfangreichen UK-Präsentation des legendären amerikanischen Künstlers Ray Johnson, der auch von Andy Warhol verehrt und gesammelt wurde, und etablierte damit Raven Row als ernst zu nehmenden Ausstellungsort. Darauf folgte mit Thomas Bayrle, Ann Lislegaard und Ultra-red eine Dreierpräsentation rund um die Übersetzung von sozialen und psychischen Realitäten in die Sprache der Kunst. Dem Schotten Eduardo Paolozzi war dann die dritte Ausstellung gewidmet, insbesondere seiner stärker politisch ausgerichtetenArbeit für die britischeKunst- und Literaturzeitschrift Ambit. Und nach dem Fokus auf die Mehrfachprojektionen des deutschen Filmemachers Harun Farocki, läuft zurzeit »A History of Irritated Material« mit einer recht gewagten Palette angefangen bei Group Material und dem Moskauer Künstlerkollektiv Inspection Medical Hermeneutics, über die Cannabis Gallery des 75-jährigen Schweden Sture Johannesson zu Ad Reinhardt und den aktivistischen Filmen des Videoarchivs Disobedience.

Das Programm von Raven Row lässt sich nicht ganz einfach einordnen, doch erkennt man ein Interesse für das komplexe und nicht immer einfache Verhältnis von Kunst, Politik, Archiv und Aktivismus. Der Ausstellungsort befindet sich in der Artillery Lane, einer engen Gasse im Osten Londons, die bis Ende des 19. Jahrhunderts Raven Row hieß. Das um 1690 errichtete Gebäude durchlief verschiedene Umbauten, intimere Räume wechseln mit größeren ab,Wohnhaustreppen führen in die oberen Stöcke. Es ist, als wäre man in einem öffentlichen Privathaus unterwegs, und genau dasmacht eines der Vergnügen des Besuches aus: dem White Cube entronnen zu sein und die Kunst in einem anderen Kontext zu sehen.

Aber nicht nur das oder die Qualität der Ausstellungen machen Raven Row zu einem außergewöhnlichen Ort. Es ist das offensichtliche Interesse an der Kunst jenseits des in Konventionen erstarrten Spektakels, eine Haltung, die sich an scheinbar lächerlichen Details festmachen lässt. In Raven Row sind etwa die Wegweiser von Hand fein auf die Wand gemalt, die Bleistiftlinien noch sichtbar. So etwas macht heute den Unterschied aus und führt dazu, das Mission Statement ernst zu nehmen: »Raven Row wird unterschiedliche Arbeiten von höchster Qualität ausstellen, oft von etablierten internationalen Künstlern, oder aber von jenen der jüngsten Vergangenheit, die Londons Aufmerksamkeit irgendwie entgangen sind. Trotzdem wird das Programm improvisiert und undogmatisch bleiben, die Qualitäten, die Raven Rows Erfolg, seinen ›kulturellen Wert‹, ausmachen mögen, werden befragbar bleiben.« 


DANIEL BAUMANN ist freier Kurator und Kritiker. Er lebt in Basel.

Aussenansicht
Foto: David Grandorge
Thomas Bayrle, Autostrada, 2003
Courtesy Galerie Barbara Weiss, Berlin, Foto: Marcus J Leith