JK

Portrait Wolfgang Tillmans

No. 06 / Winter 2005

after party (c), 2002
»Der Geist einer Zeit ist nun mal der Geist einer Zeit«


Rita Vitorelli: Sprechen wir doch mal über den Titel deines zuletzt erschienenen Buches: „truth study center“.

Wolfgang Tillmans: Ich habe Forschungsinstitutsnamen immer gemocht und erfinde sie auch selber gerne, irgendwelche Namen für hypothetische Forschungsinstitute. Was dahintersteckt, ist eine spielerische, phonetische Freude. Institut für Geodäsie und Photogrammetrie. Ich fand das immer sehr attraktiv. Sexy. Diese Neutralität, die dort einem Nichtwissen gegeben wird. Eigentlich weiß man ja noch nicht, was das Ergebnis der Forschung sein wird, aber wir geben dem jetzt schon mal diesen autoritären, neutralen Namen. Man ist eben die Autorität dafür.

In deinem fiktiven „study center“ studiert man die Wahrheit?
(Lachen) Das ist eben ein Forschungsinstitut, das es nicht gibt, und etwas, was es auch nie geben wird. Aber was es an sich bräuchte. Weil mir aufgefallen ist, dass in den letzten Jahren dieser Begriff „Wahrheit“ immer mehr in den Mittelpunkt gerät. Nach den 90ern, die ja so eine undogmatische Zeit zu sein schienen, fordern die Leute plötzlich wieder die „Wahrheit“ ein.

An wen denkst du da?
An islamischen Fundamentalismus oder den südafrikanischen Präsidenten, der negiert, dass HIV Aids verursacht. Oder dass Blair und Bush nicht akzeptiert haben, dass Hans Blix keine „weapons of mass destruction“ im Irak gefunden hat. Dass ganz viele Themen, die uns aktuell täglich beschäftigen, ihre Ursache in unterschiedlicher Wahrheitsdefinition oder -auslegung haben. Wir leiden darunter, dass andere Leute die Wahrheit für sich pachten. Ich finde dagegen einfach einen wissenschaftlichen Relativismus extrem attraktiv. Die Evidenz, wie die Dinge erscheinen, muss man ja zumindest irgendwie an Bord nehmen. Dass die visuelle Präsenz von Dingen auch Tatsachen schafft. Also z. B. ist in meinem Fall Homosexualität immer ein guter Prüfstein, an dem man ganz viel ablesen kann über den Willen der Leute, der Realität ins Auge zu sehen.

Die Frage ist, was kann man da als Künstler dazu beisteuern, zur Wahrheitsfindung?
Ja eben. Der Buchtitel verspricht weder, dass ich das herausfinden kann, noch dass ich meine eigene Wahrheit wie ein Fixum dagegenstelle. Es ist auch eine Anerkennung dessen, dass die Arbeit eines Künstlers eben nicht die Arbeit eines Forschungsinstituts leisten kann. Mich hat es eher poetisch interessiert, die Möglichkeit, diesen Begriff in den Raum zu stellen – Wahrheit. Und zwar vor dem Hintergrund, dass wir den auch besetzen müssen. Dass man den eben nicht dem Papst und Al-Qaida und Bush überlassen kann. Es ist ein Wort wie eine heiße Kartoffel. Das will man nicht gerne anfassen, als cooler Mensch würde man sich eher davon fernhalten. Und das ist ja immer das Problem, dass die skrupellosen Leute sich da mitten reinsetzen. Für mich war es wichtig, dieses Wort mit zu besetzen.

Der Buchtitel will der Arbeit also einen bestimmten Schub geben?
Er will einen Nebengedanken, einen Mitgedanken geben. Was morgens in der Zeitung stand, beeinflusst auch, wie du das Buch am Abend anschaust.

Und die weißen Zwischenblätter, welche Funktion haben sie?
Das ist eine gestalterische Ebene, einfach, um den Rhythmus zu stören. Manchmal sieht es einfach gut aus, wenn links eine freie Seite ist. Das ist eines meiner Hauptgestaltungsmittel beim Büchermachen, weil ich eigentlich sonst sehr strikt bin im Layout. Die Leute fragen mich auch, warum die Bücher nicht so aussehen wie die Ausstellungen. Aber meiner Meinung nach sehen sie schon so aus, in ihrer Sequenzierung sind sie ähnlich nachvollziehbar und unnachvollziehbar wie die Installationen. Und dann gibt es Erfahrungen und Erwartungen. Zum Beispiel erwartet man nicht, dass die rechte Seite frei ist und auf der linken ein Bild ist. Wenn auf einer Doppelseite die rechte frei ist, auf der nächsten die linke, dann hat man auf einmal ein weißes Blatt in der Hand. Es findet ja meine ganze Arbeit auf Papier statt. Alles, was ich tue, ist letztlich Papier. Mit Ausnahme der neuen Ausstellung, die Papier und Tische und Glas ist. Mich interessiert einfach dieses Material Papier. Ich habe ja auch Fotopapier fotografiert.

we summer (left), 2004
we summer (right), 2004

Es gibt von einer Arbeit, einem Sujet unterschiedliche Formate. 
Jede Arbeit ist eine eigene Auflage. Die Auflage mit der Größe 40 x 30 cm stellt eine „andere“ Arbeit dar als die mit der Größe 50 x 60 cm, weil die dann wiederum etwas anderes „tut“. Ich gehe vom Objekt aus. Dieses Blatt ist so oder so groß und hat daher auch eine Wirkung, die halt anders ist als ein kleineres Blatt mit demselben Motiv.

Aber du siehst sie als Einzelarbeiten, oder werden auch die Wandinstallationen verkauft? 
Doch, die auch. Also nicht bei jeder Wand sehe ich es als Notwendigkeit an, dass die Installation so zusammenbleiben muss, aber es gibt zentrale Wände, die dann so, wie sie sind, eine eigene Arbeit sind. Auch betitelt.

Wann entscheidest du, was du in welcher Größe für die umfangreichen Installationen brauchst? Gibt es etwas, wovon du ausgehst? 
Ich wähle sie zum Teil vorher aus, denke über die Stadt nach, über den Ort, die Galerie, die Zusammenhänge. Vor Ort sehe ich dann, was mir an der und der Stelle wichtig ist. Die Größe ist dann eine formale Frage, wobei die formale Frage nicht weniger wichtig ist als die inhaltliche. Ein kleines Bild kann genauso wichtig sein wie ein ganz großes. Die Entscheidung, das so zu zeigen, dass es gut aussieht, dass das farblich stimmt, das sind keine oberflächlichen Fragen, sondern das hat dann wiederum was damit zu tun, wie du sprichst. Entweder du sprichst klar und gut, oder eben nicht.

Aber im Prinzip würde für dich jedes Motiv in allen möglichen Formaten funktionieren? 
Nein. Ich hab ’92 oder so meine Formate gefunden, aus Erfahrungen heraus. Und bin ihnen immer treu geblieben im grundsätzlichen Raster. Es gibt die 10 x 15 cm großen Fotos, in denen ich meine Bilder das erste Mal überhaupt sehe, so wie sie vom Labor kommen. Dann 30 x 40 cm, 51 x 61 cm und 535 x 210 cm etwa. Das ist das Grundgerüst, in denen ich die Editionen mache, in Auflagen von zehn, drei und eins. Und das große Format gibt es sowohl als Tintenstrahldruck als auch als gerahmten C-Print.

Warum das? 
Weil beide wiederum in ihrer Materialität so unterschiedlich sind und ich beide aber interessant finde. Als ich ’99 die gerahmten C-Prints einführte, hatte ich Interesse daran, einfach das Gegenteil zu tun, wofür ich bekannt war, nämlich für Tintenstrahldrucke auf Klammern.

Merkst du eine Tendenz, geht das eine besser als das andere? 

Es gibt Leute, die sehen die Tintenstrahldrucke als das Typischere an. Aber viele wollen halt nicht die Verantwortung haben für dieses fragile Objekt, wo man schon aufpassen muss, dass, wenn man die Fenster aufmacht, nicht ein Windstoß es von der Wand reißt. Da gibt es dann eben Leute, die lieber diese feste Präsenz haben.
Für mich ist die Purheit des Objektes das Entscheidende. Dieses Blatt interessiert mich. Innerhalb der Ausstellungen kam ich zu dem Punkt, dass ich alles, was das Blatt auf ein Podest stellt, wegnehmen wollte. Ich wollte das Blatt als Blatt erfahren können. Ich habe dann eine spezielle Aufklebetechnik erfunden … Das kann man für drei oder sechs Monate, diese Purheit im Raum halten, aber wenn das jetzt fünf Jahre bei jemandem zu Hause hängt, der raucht, oder Fliegen in der Wohnung sind (Fliegen setzen sich z. B. auf Bilder und scheißen drauf), hat hinterher das verschmutzte Blatt weniger diese Purheit des Objektes, als wenn es in dem von mir vorgesehenen Rahmen geschützt ist und hoffentlich viele Jahre so bleibt. Aber eben alles vergeht auch. Das ist auch das Besondere an Fotografien, dass sie als dieses extrem perfekte Objekt auf die Welt kommen und von da an immer gefährdet sind.

Noch zu deiner Hängung. Du warst der Erste, der Fotografie so präsentiert hat. Wieso hast du das damals so gemacht? 
Wie so viele Dinge, die etwas grundsätzlich Neues sind, fühlt es sich in dem Moment nicht so an. So, dass man jetzt sagen würde: Ich mach jetzt etwas Revolutionäres. Natürlich hat es einen besonderen Geist, eine besondere Stimmung und Willen von mir gehabt. Aber ich glaube, das meiste, was so eine neue Kraft hat, entsteht nicht, weil man die Absicht hat, vorher nachdenkt, wie es ankommt, sondern weil es dann so seine Gründe dafür hat …

Das ist dann so was wie ein glücklicher Moment.
Ja. Natürlich kann man dankbar sein, dass es mich getroffen hat, und auf der anderen Seite ist es natürlich schon so, dass ich an vielen Punkten viele kleine entscheidende Entscheidungen getroffen habe, die es dann halt so kommen haben lassen. Dass ich z. B. einfach dieser existierenden Hierarchie zwischen Zeitschriftenseite als Wegwerfobjekt und handabgezogenem Foto als Wertobjekt widersprochen habe. Aber nicht in einer bloßen Umkehrung, sondern im Nebeneinander, beides hat seine haptischen, speziellen Qualitäten. Das war eine durchaus konzeptuelle Entscheidung. Wenn ich Zeitschriftenseiten selber gestaltet habe, was ich in „i-D“ ’92, ’93 tun konnte, dann waren für mich diese Seiten komplett authentische Arbeiten.

after storm, 2002

Wie hoch war der konzeptuelle Anteil an deinen Arbeiten. Das erinnert an Strategien der 60er, wo man auch mit allem möglichen Material möglichst unhierarchisch gearbeitet hat, versucht hat, die Erhöhungen runterzubringen durch An-die-Wand-Kleben oder -Pinnen etc. 

Da ist ein großes intuitives Bewusstsein dafür dagewesen. Die Idee, dass man eine Wandzeichnung über ein Zertifikat kauft, hab ich gekannt. Als ich ’92 die Tintenstrahldrucke (damals waren das großformatige Farbfotokopien) als Medium gewählt habe, habe ich das von Anfang an als konzeptuelle Lösung gesehen. Und zwar, dass ich mit diesen kleinen Originalfotos an einen anderen Ort reisen kann und dort eine große Ausstellung machen kann. Was ich in den Anfängen auch gemacht habe.

Das ist eine schöne Ökonomie der Mittel. 
Ja. Genau, das ist etwas, was mich bis heute begleitet, eine Freude an der Fotografie als ökonomisches Mittel, das mit ermöglicht, über Raum und über Objekte nachzudenken. Sehr viel meiner Arbeit ist eigentlich dreidimensional. Das schützt mich davor, alle möglichen unnötigen Objekte und Abgüsse, Replikate und Dinge machen zu müssen. (Lachen)

Wurde dieser konzeptuelle Anteil überhaupt wahrgenommen? 
Es ist thematisch so viel los gewesen in den Bildern, dass diese ganzen konzeptuellen Gedanken von Kritikern überhaupt nicht wahrgenommen wurden. Das haben Leute, die sich damit intensiv befasst haben, gemocht und interessant gefunden, aber das bestimmt bis heute nicht die Wahrnehmung meiner Arbeit. Die Leute wissen natürlich schon, dass ich alle möglichen Modelle für „Bilderzeigen im Raum“ durchgespielt habe. Aber es ist interessant, dass doch das Sujet bei Fotografie immer absolut im Vordergrund steht und die Leute eigentlich wenig über das Objekt nachdenken. Das Objekt wird ja auch in ganz vieler Fotografie gegenstandslos gemacht, indem es aufgezogen ist, im randlosen Rahmen ist … 

Eines hat mich schon sehr interessiert: dass du die Zeitschriftenarbeiten als Editionen begreifst, nur eben als viel größere. Das finde ich echt lustig. Als ich das damals gelesen habe, hat mich die Vorgehensweise, der Umgang mit der Sache, interessiert. Der Umgang mit dem Bild und die Sujets selber entsprechen einander sehr stark in ihrer Haltung. Weil deine Arbeiten extrem unprätentiös sind, finde ich. 
Genau, weil dieser ganze Akt, ein Bild von etwas zu machen, erst einmal hochgradig hinterfragenswürdig ist. Also wozu? Was soll das? Was habe ich an Mehrwert dazuzuleisten? Was bedeutet diese Veränderung vom realen Objekt zum zweidimensionalen? Das war, glaube ich, ganz gut, dass ich in meinem Studium einen ganz tollen Lehrer hatte, der den Kurs rein psychoanalytisch geführt hat. Grundsätzlich immer gefragt hat: Warum meinst du, dass du zu dem riesigen Pool an Bildern, den es gibt, noch irgendwas beisteuern musst?

Hast du eine Antwort für dich finden können? 

Nein, es ist keine Frage, die ganz klassisch eine Antwort verlangt, obwohl ich doch glücklicherweise für mich das Gefühl hatte, ganz viele Dinge nicht repräsentiert zu finden, wie ich sie sehe. Zum Beispiel meine Altersgenossen so zu fotografieren, wie ich sie sehe, als ernsthafte, ernst zu nehmende, komplexe Personen. Was Ende der 80er einfach nicht der Fall war in den Medien. 

Das wäre Porträtfotografie mit einer Tradition, solange es die Fotografie gibt. 
Aber junge Leute sind so in der Zeit nicht fotografiert worden. Heute gibt es natürlich 20.000 Porträts von Jugendlichen und Szene. 

Aber es gab ja Leute wie Nan Goldin, Larry Clark … 
Die waren viel, viel früher, zwei Jahrzehnte davor. Nan Goldin hatte in den 70ern angefangen. 

Aber Juergen Teller, okay, mehr in der Mode … 
Ich meine, dass überhaupt solche Dinge wie House-Musik oder Disco was Ernsthaftes sein könnten, das hat es überhaupt nicht in der Kunstwelt gegeben. Insofern hab ich mich eben für „i-D“ interessiert. Als Teenager, einerseits als Boy-George-Fan, andererseits als Künstler, hab ich das immer gesehen, was natürlich auch nicht das Neueste ist. Andy Warhol hat auch eine eigene Zeitschrift gegründet. Aber dieser angeblich flüchtige Teil von Kultur war eben nicht wirklich in der Kunst repräsentiert. Dabei hab ich in einer Disconacht tiefe Wahrheiten empfinden und über Abstraktion in den Discolichtern nachdenken können und über Faltenwürfe. Alle möglichen so genannten Hochkunstthemen waren für mich hochgradig evident in subkulturellen Themen. Das war in der Kunstwelt eben nicht so vertreten. 

Aber in die Tendenz des Crossover der 90er Jahre ist deine Arbeit dann schon reingefallen. Sonst hätte das wahrscheinlich nicht funktioniert, wenn das nicht in größerem Zusammenhang in der Luft gelegen wäre, in der bildenden Kunst, meine ich jetzt.
Absolut. Ich bin sehr dankbar für Leute wie Nan Goldin oder William Eggleston, die Farbfotografie überhaupt erst möglich gemacht haben in der Kunst. Das darf man nicht vergessen, dass in der Kunst noch Ende der 80er Farbfotografie an sich eher eine No-Go Area war. Cindy Sherman muss man auch mit an der vordersten Front nennen. Und ich habe das Glück der späten Geburt, dass diese ganze Frage „Ist Fotografie Kunst?“ für mich nie von persönlicher Relevanz gewesen ist. Das Merkwürdige ist aber trotzdem, dass 15 Jahre später unheimlich viele – Fotografen insbesondere – immer noch nicht damit klarkommen, dass Fotografie Kunst sein kann, was nicht heißt, dass alle Fotos Kunst sind. Dass im Umfeld von Mode auch Kunst entstehen kann, heißt nicht, dass alle Mode Kunst ist. Aber das Potenzial, dass es so sein kann, war mir immer ganz eindrücklich bekannt. Obwohl ich es mir auch hart für mich selber erarbeitet habe … ich hab das erst mal auch so gedacht, dass Ausstellungen machen meine freie Arbeit ist, Zeitschriften machen meine angewandte. Weil das einfach überall in der Welt so ist, auch heute noch. Absolut, durch und durch. Da hab ich dann irgendwann so einen Durchbruch für mich gehabt, wo ich mir gesagt habe, du musst dahin gehen, wo die richtige Energie für dich ist. Das war eben „i-D“ – auch nicht „Face“, in der ging es um einen anderen Glamour-Begriff. Bei „i-D“ war halt genau in dem Moment ein Chefredakteur, der genau das wollte. 

truth study center, table 11, 2005

Du warst also in der glücklichen Lage, dass du nie was für Geld machen musstest? 
(Lachen) Das war nicht so spezifisch glücklich. Irgendwie war ich nie besonders bevorteilt von zu Hause, obwohl es hilft, aus Mittelklasseverhältnissen zu kommen wie viele von uns. Aber ich hatte schon ganz klar Entscheidungen getroffen gegen Geldmachen; lieber 40 Pfund für eine Seite bei „i-D“ als 500 Mark die Seite für „Wiener“ z. B. Die hatten mich gefragt, ob ich eine Homestory mit MTV-Redakteurinnen machen wollte, eine von MTV gesponsterte Sache. 

Und das hat dich einfach überhaupt nicht interessiert. 
Überhaupt nicht. Ich hab gemerkt, das ist so eine Corporate- Sache, wo irgendwelche Interessen wieder dahinter sind. Das hab ich in Situationen gemacht, wo ich das Geld gut gebraucht hätte, ich war gerade nach London gezogen. Durch die „i-D“- Veröffentlichungen bin ich für alle möglichen Leute bekannt oder interessant geworden. Ich habe das alles nicht gemacht und auch auf die viel höheren Werbegelder verzichtet. Immer aus dem Gefühl heraus, es interessiert mich nicht, ich kann es nicht so gut wie die anderen, und natürlich auch, das muss ich ganz ehrlich sagen, aus einem strategischen Bewusstsein heraus. 

Und zwar welchem? 
Dass ich natürlich schon auch weiß, dass dieses Unbestechliche auch ein Kapital bedeutet. 

Glaubwürdigkeit nämlich. 
Genau. Das soll jetzt nicht als zynische Kalkulation gesehen werden. Das ist halt so. Das habe ich mir dann mit einem Mal 1996 zerschossen, indem ich Kate Moss für die amerikanische „Vogue“ gemacht habe. 

Aber warum hast du das gemacht? 
Weil ich auch wieder das Gegenteil machen wollte von dem, was ich sonst mache. 

Hatte es auch was damit zu tun, dass es genau Kate Moss war und nicht wer anderer? 

Ja. Die amerikanische „Vogue“ hat mich gefragt, was mich interessieren würde. Ich hab es vorher öfter mal versucht mit Stylist und Model, bin aber immer wieder daran gescheitert. Ich hab also gesagt, ich kann es nur unter meinen Bedingungen machen, auf meinem Terrain, mit jemandem, der mich interessiert. Das einzige Supermodel, das mich interessiert hat, war Kate Moss. 

Und warum, was an ihr? 

Sie ist eine faszinierende Person, weil sie wirklich überhaupt nicht technisch schön ist. Die Augen sind viel zu weit auseinander, die Zähne sind schief und spitz, sie ist klein … Sie ist nun mal die Person, die auch für meine Herkunft hier aus dieser Szene in London stand. Dass diese Ästhetik, die Kate Moss verkörpert hat, plötzlich weltweit den Zeitgeist verkörpert hat, ist ja interessant. Genauso wie Twiggy für die 60er oder wie Veruschka. Das ist einfach faszinierend, das ist ein Talent, das ist nicht irgendwas. 

Zeitgeist ist ein gutes Stichwort. Deine Porträts haben einen Zeitgeist getroffen. Das ist schon ein Punkt, dass die so stark in der Zeit verwurzelt sind. Wenn sie dokumentarischer wären, mit einem weniger involvierten Blick, so was wie eine Beobachtung einer Jugendkultur, glaube ich nicht, dass sie das hätten weitertragen können, allgemeingültiger über die Zeit hinaus. 

Ich hab überlegt, wie kann ich ein Porträt von Menschen machen heute? Und das konnte ich am besten mit Leuten, die ich verstehe und die mir nahe waren. Ich hab nie gesagt, ich werde jetzt Chronist der 90er, sondern mich hat interessiert, wie hängt eine Hand an einem Körper. Aber gleichzeitig hatte ich wieder keine Angst davor, das in einem zeitgenössischen Kontext zu machen, wovor eben unheimlich viele „ernsthafte“ Künstler riesige Angst haben. Man darf nicht vergessen, dass die Leute wahnsinnige Angst davor haben, vergänglich zu sein. Und deshalb wollen sie gerne zeitlos sein oder halten Distanz zu den vermeintlich zeitgeistigen Dingen. Das Wort Zeitgeist ist ja eigentlich ein Schimpfwort im deutschen Sprachraum seit den 80ern. Mit gutem Grund, aber auch wiederum nicht, denn Zeitgeist ist ja viel größer als Mode. Der Geist einer Zeit ist nun mal der Geist einer Zeit. Und wenn man es schafft, den zu treffen … Ich bin im Nachhinein darüber sehr stolz, dass ich das halt nicht abgelehnt habe, sondern ohne Künstlichkeit drinnen verwurzelt war. Dann prägt man den Geist mit, das ist ja eine Wechselwirkung. 

Würdest du sagen, dass deine Arbeit sich im Laufe der Zeit sehr verändert hat? 

Ich hoffe. Sie ist einerseits extrem kontinuierlich, und ich bin überrascht, wie sehr in den Anfängen schon da war, was mir heute wichtig ist. Und auf der anderen Seite hab ich mich bewusst immer mit der Rezeption meiner bisherigen Produktion auseinander gesetzt, um eben das, was danach kommt, gegen meinen eigenen Kontext immer weiter zu entwickeln. Und natürlich auch gegen das, was dann um mich herum passiert. Das ist wiederum kein eitles Tun, sondern ein notwendiges Tun, sich um diese Zusammenhänge zu kümmern. Ich habe schon ganz bewusste Schritte getan, Themen in den Vordergrund gerückt … es muss interessant bleiben. Und auf der anderen Seite sagen manche Leute, die dem ganzen Projekt nicht wohlgesonnnen sind, sie sehen nur Wiederholung. Das ist einfach absurd. Es gibt ganz faktisch Dinge, die dazugekommen sind. Ich sehe auch keinen Grund, warum ich sprunghaft sein sollte. Wenn ich an etwas geglaubt habe, will ich gerne heute wissen, ob das noch stimmt. Deshalb benutze ich auch gerne alte Bilder wieder, um das immer wieder zu überprüfen. 

Interessiert dich der Faktor Zeit in deiner Arbeit. Fotografie hat so viel mit Stillstellen zu tun. Gerade wenn du wieder zurückgreifst auf altes Material … 

Ich hatte in dem Bezug jetzt eine interessante Erfahrung gemacht – mit einer Ausstellung in Berlin in der Galerie Meerrettich. Da habe ich 16 Jahre alte Bilder, die ich noch nie vorher ausgestellt hatte, gezeigt. Sie wurden auf dem Polenmarkt gemacht, wo Leute aus Polen den letzten kleinen Schund verkauft haben, um eine Westmark zu machen. Das war ein absolut historischer Moment, der Mauerfall, dann freier Markt, alles, was bis heute eben wirkt. Wir sind ja heute in der Kontinuität einer Entwicklung, die in dem Moment begonnen hat stattzufinden. Das ist faszinierend, dass einerseits so viel Zeit verflossen ist, dass die Bilder jetzt historisch sind, dass die Mode ablesbar ist. Aber fotografisch sind die Bilder dann auch wieder nicht alt, so ein bisschen alt, weil halt ein Frühwerk von mir. Aber sie könnten auch in Moldawien heute gemacht worden sein. Da habe ich das Moment Zeit aktiv eingesetzt. 

Du interessierst dich doch auch für Hanne Darboven, oder? 

Ich nehme sie wahr, diese Art von extremer Zeitumsetzung. Das interessiert mich. Ich bin leidenschaftlicher Isa-Genzken- Fan, aber kein leidenschaftlicher Hanne-Darboven-Fan. Sie ist aber irgendwie eine Position … das Wort „Position“ ist eine deutsche Krankheit, „Position“ und „verorten“ … 

Was magst du an der Arbeit von Isa Genzken? 

Auch wieder die Frage: Wie kann man abstrakte Skulptur machen heutzutage? Wie geht man da weiter? Das ist schon ein beeindruckendes Werk, wenn man sieht, wie sie sich, ohne zu rosten, selber immer weiterpusht und nie nachgibt. So von wegen: „Jetzt habe ich meinen Status quo erreicht, und jetzt reicht es, jetzt hab ich es gelöst.“ Sondern so ein unnachgiebiges Nachforschen, immer wieder infrage stellen, was man vorher gemacht hat, und sich dagegenstellen, aber nie ein „Ich wende mich jetzt ab, weil das die letzte Scheiße ist“. Das durchzuhalten und immer „jünger“ dabei zu werden – das ist zwar eine merkwürdige Definition, aber es stimmt, sie wird immer radikaler, ist radikaler als viele 25- oder 35-Jährige. Das ist für mich eine Energie, die eine ständige Herausforderung ist.


RITA VITORELLI ist Künstlerin und Chefredakteurin von spike. Sie lebt in Wien.


WOLFGANG TILLMANS, geboren 1968 in Remscheid/ Deutschland. 1990–1992 Studium am Bournemouth and Poole College of Art and Design. 2000 Turner Prize. Seit 2003 Professur an der Städelschule in Frankfurt am Main. Lebt in London.


Vertreten von Maureen Paley, London; Daniel Buchholz, Köln/Berlin; Andrea Rosen, New York, Galerie Chantal Crousel, Paris; Regen Projects, Los Angeles