
Remembering Toba Tek Singh, 1998
»Mit einer erwachsenen menstruierenden Alice hätte Lewis Caroll nicht umgehen können«
Mit ihren Malereien und Multimediainstallationen ist NALINI MALANI eine der prominentesten Figuren der indischen Gegenwartskunst. JULIA PEYTON-JONES und HANS ULRICH OBRIST sprechen mit der Künstlerin über Malerei, Bert Brecht und das Politische an der Kunst.
Julia Peyton-Jones Ist Indien deine Inspirationsquelle, oder sind es die Erfahrungen, die du außerhalb Indiens machst?
Nalini Malani Ein Teil meiner Quellen ist indisch. Die »Kalighat Malerei« ist eine wichtige Quelle für mich und in der Literatur einige der Epen und Geschichten des »Bhagavatapurana«. Das sind Geschichten über die verschiedenen Inkarnationen des Gottes Vishnu, die wirklich sehr komisch sind. Von dort nehme ich sehr viel, besonders jetzt, wo sich die Dinge in Richtung Hindu-Fundamentalismus bewegen. Ein Grund mehr, um zur Verspieltheit, die es im Hinduismus gibt, zurückzufinden. Die Fundamentalisten versuchen den Hinduismus zu dogmatisieren und zu talibanisieren. Deshalb ist es sehr wichtig, die alte Verspieltheit der Hindu-Epik wiederaufzunehmen. Es ist immer das Privileg der Künstler gewesen, die Mythen umzuformen, so wie es ihr Privileg war, die Gesichter und Körper der Götter zu zeichnen.
Hans Ulrich Obrist Was ist »Kalighat Malerei«?
NM Wie ihr euch vorstellen könnt, sind während der britischen Herrschaft in Indien viele der Förderer der Künste, also die Fürsten und Nawabs usw., ziemlich verarmt und konnten die Miniaturmalerei im klassischen Sinn nicht mehr unterstützen. Also mussten viele der Künstler andere Mittel und Wege finden, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Einer dieser Wege war, in kleinen Läden rund um die Tempel schnelle Aquarellmalereien der Göttin [Khali] für ihre Anhänger zu machen. Sie sind für ein Sechzehntel einer Rupie verkauft worden. Damals hatte eine Rupie sechzehn Annas, und um einen Anna konnte man so ein Bild kaufen. Da sie zwischendurch oft nicht viel zu tun hatten, haben die Künstler versucht, etwas von den sozialen Realitäten der Gegend einzufangen, fast wie ein Comic-Strip. Ich glaube, diese Notlage hat wirklich zum Entstehen einer neuen künstlerischen Form geführt, erstens die Armut, und zweitens das Verlangen, ihre Umgebung scharf zu beobachten, denn es sind nicht mehr Krishna und Rhada und solche Sachen gemalt worden, sondern die Realität vor Ort. Und drittens die Bedeutung der Aquarellfarbe Winsor and Newton. Das hat einen großen Unterschied gemacht. Aquarellfarbe verteilte sich leichter als die traditionelle Temperafarbe und war gut geeignet für einen schnellen Strich.
HUO Was genau an der Kalighat Malerei hat dich inspiriert?
NM Es waren mehrere Dinge. Mich hat ihre Geschichte sehr interessiert. Ich glaube, sie war wirklich die Avantgarde der indischen Kunst, so wie die Figuren gezeichnet, oder eher gemalt worden sind. Die Figuren hatten sehr flache Schatten, ganz wie bei Léger. In Indien sagen wir immer »Léger hat sicher Kalighat Malereien gesehen«. (Lacht)
HUO Kannst du uns etwas über Indien als multikulturelle Gesellschaft und deine eigene kulturelle Herkunft, deine Kindheit und die Teilung [Indiens] erzählen?
NM Das meiste habe ich aus Erzählungen meiner Eltern und Großeltern erfahren. Ich bin 1946 geboren, und wir mussten im selben Jahr weggehen. Meine Eltern mussten fliehen, nur mit den Kleidern am Leib. Es ist die alte Geschichte. Das Heimweh hat nie aufgehört. Sogar heute noch spricht meine Mutter über ihre Stadt, Hyderabad in der Provinz Sindh, und wie sie aussah. Wenn jemand aus Pakistan kommt, fragt sie immer »Gibt es das noch? Ist der Bazaar immer noch dort? Ist da dieses Geschäft?« Es gibt also großes Heimweh und eine große Sehnsucht, weil dort Sindhi gesprochen wird, meine Muttersprache.
JP-J Deine Eltern flüchteten aus Karachi in dem Jahr, als du geboren wurdest. Fühlst du dich ganz wie eine Inderin?
NM Ja, absolut als Inderin, aber es gibt viele Indien. Wir sind von Karachi nach Calcutta gezogen. Mein Vater ging zu Air India, und meine Mutter hat sehr viel für die Integration der Flüchtlinge aus Ostbengalen gearbeitet. Dort hatte es auch eine Teilung gegeben, und sie scheint eine Verbundenheit mit den Flüchtlingen empfunden zu haben, weil das der einzige Weg war, über ihre Sehnsucht hinwegzukommen.

Medea III, 2006
HUO Als wir einmal über deine Helden gesprochen haben, hast du auch westliche Helden erwähnt. Ich war besonders fasziniert, die Namen Heiner Müller und Christa Wolf zu hören.
NM Christa Wolf, ich will gerade anfangen mit einem ihrer Texte zu arbeiten. Was Heiner Müller betrifft, es gibt eine indische Performancekünstlerin, die in London lebt, Alaknanda Samarth. Wir kannten uns schon einige Jahre. Ich hatte gerade »City of Desires« installiert, und die ganze Galerie war voll mit Wandzeichnungen. Sie ist hereingekommen und hat zu performen begonnen. Da waren Pigmente am Boden und andere Objekte. »Das ist etwas für eine Performance«, hat sie gesagt, »laß uns etwas zusammen machen.« Das hat mir gefallen. Sie hat mir dann den Text von Heiner Müllers »Medeamaterial« gegeben, und das war es – es war fantastisch! Mir hat einfach die Verbindung der klassischen Sprache mit dem Lärm und Gekratze von Graffitis gefallen.
JP-P Sind alle deine Arbeiten Aquarelle?
NM Nein. Ich mache auch »reverse paintings«. Das ist die alte Technik der Hinterglasmalerei. Die Hinterglasmalerei ist eigentlich keine Hochkunst, sie steht genau zwischen high und low. Die Chinesen haben sie im 14. Jh. nach Indien gebracht, pornografische Darstellungen auf kleinen Glasstückchen, die am Hafen verkauft wurden. Im Süden scheinen die Künstler die Technik sehr gemocht zu haben und haben das Profane ins Heilige verwandelt. Jetzt kann man Darstellungen der Götter und Göttinnen als Hinterglasmalerei eingefasst mit Edelsteinen kaufen. In Teilen des Nordens und Westens verwendet man sie als Dekoration für Kästen, für Einlegearbeiten bei Schränken, Kopfstützen und solchen Sachen. Sie ist also keine sehr hohe Kunst.
HUO Und du malst auch direkt an die Wand.
NM Ja. Diese Arbeiten sind total ephemer; sie werden später wieder übermalt. Das sind Arbeiten für die Erinnerung – wie eine Performance.
HUO Machst du Skizzen für deine Malereien? Sie sind so voller unterschiedlicher Elemente … viele Wesen, viele Figuren.
NM Nein, mache ich nicht.
HUO Es ist improvisiert. Es ist ein freier Fluss.
NM Ja. Das ist es, was mir daran Spass macht.
HUO Zeichnest du auch?
NM Ja, ich werde euch einige Aquarellzeichnungen zeigen … Es geht in ihnen ums »Zuhören«. Mein nächstes Projekt mit Alaknanda ist über Kassandra. Bei Kassandra geht es darum, auf jemanden zu hören. Diese hier sind aus einer Serie mit dem Titel »Living in Alicetime«, eine Arbeit über Lewis Carolls »Alice«. Aber mit einer erwachsenen und menstruierenden Alice hätte Lewis Caroll nicht umgehen können, glaube ich.
HUO Und wie ist es mit den »Transgressions«? Es gibt die Wandmalereien, es gibt die »reverse paintings« und dann gibt es die »Transgressions«, wo du wirklich mit den Räumen arbeitest. Kannst du etwas über sie erzählen?
NM Ich habe diese transparenten Zylinder gemacht. Das ist »reverse painting«, aber ich lasse sie transparent, sodass sie mit Hilfe einer Lichtquelle nahtlos sich bewegende Schatten werfen. Ich habe viele Schattenspiele gemacht. Es hat eigentlich im Theater begonnen, mit Bertolt Brechts »Der Arbeitsplatz«, einer Adaption einer seiner Kurzgeschichten. Hier gibt es viel Brecht, alles von ihm ist übersetzt, besonders ins Bengalische.
HUO Warum, glaubst du?
NM Irgendwie passt es gut in das bengalische Empfinden. Es gibt eine kommunistische Regierung, und sie fühlen sich diesem Text sehr nah. Es ist eigentlich ein Wandertheater für die Dörfern, ein »Yatra«. Ich habe »Mutter Courage« und den »Kaukasischen Kreidekreis« gesehen. Die Menschen lieben es. Sie kommen einfach auf den Dorfplatz und spielen.
HUO Und was hast du mit Brecht gemacht?
NM Es gibt eine Kurzgeschichte von 1923, »Der Arbeitsplatz oder Im Schweiße deines Angesichts sollst du kein Brot essen«. Sie handelt von einer Frau, die sich als ihr verstorbener Mann ausgibt. Es herrschte natürlich Arbeitsplatzmangel in Deutschland zu dieser Zeit. Ich kann mich nicht genau erinnern, aber offenbar hat er einen Zeitungsartikel zu einer Kurzgeschichte verarbeitet. Ich habe mit der Theaterregisseurin Anuradha Kapur zusammen gearbeitet, wir haben ein Stück für einen Schauspieler daraus entwickelt. Ich habe dann diese Zylinder ein Meter fünfzig hoch gemacht, in der Größe der Schauspielerin. Der Raum war ungefähr zehn Meter hoch. Ich habe fünf solcher Zylinder über sie drüber ziehen lassen, wodurch sie verwandelt worden ist. Ich weiß nicht, ob ihr als Kinder mit Papierpuppen gespielt habt? Es hat sich aus dem Papierpuppenkonzept heraus entwickelt. Als die Zylinder langsam vom Hängeboden heruntergekommen sind, haben sie sich zu drehen und Schatten zu werfen begonnen. Die Schauspielerin hat alles über den Haufen geworfen, weil sie sich weigerte da mitzumachen. Wir waren ziemlich verzweifelt. Und dann habe ich mir überlegt, ein Schattenspiel zu machen. (Lacht)
HUO So hast du das erfunden?
NM Ja. (Lacht)
NM Christa Wolf, ich will gerade anfangen mit einem ihrer Texte zu arbeiten. Was Heiner Müller betrifft, es gibt eine indische Performancekünstlerin, die in London lebt, Alaknanda Samarth. Wir kannten uns schon einige Jahre. Ich hatte gerade »City of Desires« installiert, und die ganze Galerie war voll mit Wandzeichnungen. Sie ist hereingekommen und hat zu performen begonnen. Da waren Pigmente am Boden und andere Objekte. »Das ist etwas für eine Performance«, hat sie gesagt, »laß uns etwas zusammen machen.« Das hat mir gefallen. Sie hat mir dann den Text von Heiner Müllers »Medeamaterial« gegeben, und das war es – es war fantastisch! Mir hat einfach die Verbindung der klassischen Sprache mit dem Lärm und Gekratze von Graffitis gefallen.
JP-P Sind alle deine Arbeiten Aquarelle?
NM Nein. Ich mache auch »reverse paintings«. Das ist die alte Technik der Hinterglasmalerei. Die Hinterglasmalerei ist eigentlich keine Hochkunst, sie steht genau zwischen high und low. Die Chinesen haben sie im 14. Jh. nach Indien gebracht, pornografische Darstellungen auf kleinen Glasstückchen, die am Hafen verkauft wurden. Im Süden scheinen die Künstler die Technik sehr gemocht zu haben und haben das Profane ins Heilige verwandelt. Jetzt kann man Darstellungen der Götter und Göttinnen als Hinterglasmalerei eingefasst mit Edelsteinen kaufen. In Teilen des Nordens und Westens verwendet man sie als Dekoration für Kästen, für Einlegearbeiten bei Schränken, Kopfstützen und solchen Sachen. Sie ist also keine sehr hohe Kunst.
HUO Und du malst auch direkt an die Wand.
NM Ja. Diese Arbeiten sind total ephemer; sie werden später wieder übermalt. Das sind Arbeiten für die Erinnerung – wie eine Performance.
HUO Machst du Skizzen für deine Malereien? Sie sind so voller unterschiedlicher Elemente … viele Wesen, viele Figuren.
NM Nein, mache ich nicht.
HUO Es ist improvisiert. Es ist ein freier Fluss.
NM Ja. Das ist es, was mir daran Spass macht.
HUO Zeichnest du auch?
NM Ja, ich werde euch einige Aquarellzeichnungen zeigen … Es geht in ihnen ums »Zuhören«. Mein nächstes Projekt mit Alaknanda ist über Kassandra. Bei Kassandra geht es darum, auf jemanden zu hören. Diese hier sind aus einer Serie mit dem Titel »Living in Alicetime«, eine Arbeit über Lewis Carolls »Alice«. Aber mit einer erwachsenen und menstruierenden Alice hätte Lewis Caroll nicht umgehen können, glaube ich.
HUO Und wie ist es mit den »Transgressions«? Es gibt die Wandmalereien, es gibt die »reverse paintings« und dann gibt es die »Transgressions«, wo du wirklich mit den Räumen arbeitest. Kannst du etwas über sie erzählen?
NM Ich habe diese transparenten Zylinder gemacht. Das ist »reverse painting«, aber ich lasse sie transparent, sodass sie mit Hilfe einer Lichtquelle nahtlos sich bewegende Schatten werfen. Ich habe viele Schattenspiele gemacht. Es hat eigentlich im Theater begonnen, mit Bertolt Brechts »Der Arbeitsplatz«, einer Adaption einer seiner Kurzgeschichten. Hier gibt es viel Brecht, alles von ihm ist übersetzt, besonders ins Bengalische.
HUO Warum, glaubst du?
NM Irgendwie passt es gut in das bengalische Empfinden. Es gibt eine kommunistische Regierung, und sie fühlen sich diesem Text sehr nah. Es ist eigentlich ein Wandertheater für die Dörfern, ein »Yatra«. Ich habe »Mutter Courage« und den »Kaukasischen Kreidekreis« gesehen. Die Menschen lieben es. Sie kommen einfach auf den Dorfplatz und spielen.
HUO Und was hast du mit Brecht gemacht?
NM Es gibt eine Kurzgeschichte von 1923, »Der Arbeitsplatz oder Im Schweiße deines Angesichts sollst du kein Brot essen«. Sie handelt von einer Frau, die sich als ihr verstorbener Mann ausgibt. Es herrschte natürlich Arbeitsplatzmangel in Deutschland zu dieser Zeit. Ich kann mich nicht genau erinnern, aber offenbar hat er einen Zeitungsartikel zu einer Kurzgeschichte verarbeitet. Ich habe mit der Theaterregisseurin Anuradha Kapur zusammen gearbeitet, wir haben ein Stück für einen Schauspieler daraus entwickelt. Ich habe dann diese Zylinder ein Meter fünfzig hoch gemacht, in der Größe der Schauspielerin. Der Raum war ungefähr zehn Meter hoch. Ich habe fünf solcher Zylinder über sie drüber ziehen lassen, wodurch sie verwandelt worden ist. Ich weiß nicht, ob ihr als Kinder mit Papierpuppen gespielt habt? Es hat sich aus dem Papierpuppenkonzept heraus entwickelt. Als die Zylinder langsam vom Hängeboden heruntergekommen sind, haben sie sich zu drehen und Schatten zu werfen begonnen. Die Schauspielerin hat alles über den Haufen geworfen, weil sie sich weigerte da mitzumachen. Wir waren ziemlich verzweifelt. Und dann habe ich mir überlegt, ein Schattenspiel zu machen. (Lacht)
HUO So hast du das erfunden?
NM Ja. (Lacht)

Medea I, 2006
HUO Wann hast du begonnen, mit Video zu arbeiten?
NM Ich habe Video bei »Medeamaterial« 1993 verwendet und dann 1998 meine erste Videoinstallation gemacht. Das war nach den indischen Atomwaffentests. Sie hatte den Titel »Remembering Toba Tek Singh«, eine Vierkanalarbeit mit Sound und 12 Monitoren. Auch diese Arbeit hatte etwas Theatralisches. Eine Kurzgeschichte des indo-pakistanischen Schriftstellers Sa’adat Hasan Manto war die Vorlage dafür, ein brillanter Autor von Kurzgeschichten. Es ist eine Geschichte, die jeder in Indien und Pakistan kennt. Meine Arbeit war eine Kritik an den Atomwaffentest, die beide Länder durchführten, um ihre sogenannte Macht zu demonstrieren. Was für eine dumme Idee. Aber natürlich waren alle ganz begeistert davon. Der Nationalstolz war auf seinem Höhepunkt. Ich habe die Arbeit im Prince of Wales Museum gezeigt, einem beliebten Museum für die indischen Touristen. Jeden Tag sind dreitausend Leute gekommen. Es hat eine ziemliche Debatte ausgelöst, die Leute haben mit mir gestritten und mich angeschrieen. Ich durfte die Arbeit nur für zehn Tage im Museum zeigen. Ich war jeden Tag dort.
HUO Siehst du dich als politische Künstlerin?
NM Come on, Hans Ulrich! So etwas kannst du mich nicht fragen. (lacht)
HUO Ich glaube, dass in einem gewissen Maße die ganze Idee des polititsche Künstlers zurückkommt.
NM Auch wenn man nichts Politisches macht, hat das Politische viel mit einem zu tun, egal ob man das gut findet oder nicht.
JP-J Jede Kunst ist politisch. Aber es gibt extreme Formen von politischer Kunst, wo das Politische vielleicht das Thema und die Motivation ist, Kunst zu machen. Das ist ein etwas anderer Zugang.
NM Ja. Ich bin weder an Propaganda, noch an Didaktik, noch an Postern interessiert, aber ich möchte auf meine eigene Art über das Politische sprechen. Das ist das einzige Werkzeug, das ich habe.
HUO Ich dachte Brecht bringt uns zum Politischen.
NM Stimmt. Nun, weißt du, ich habe Luce Irigaray gelesen, und schon sie spricht über die Differenz der männlichen und weiblichen Sprache. Jetzt ist es an der Zeit sich der weiblichen Subjektivität mit großer Aufmerksamkeit zuzuwenden, wenn man soetwas wie Fortschritt erreichen will. Das ist mein Interesse. Der religiöse Fundamentalismus verlangt die Unterwerfung der Frau. Es sind die Frauen, die die Kleidung der Religion tragen müssen. Es ist ihre Schuld, dass die Männer erregt werden, daher müssen sie von Kopf bis Fuß bedeckt sein.
JP-J Ich möchte nur noch einmal auf Brecht zurückkommen, denn es ist eine so unglaublich lebendige Vorstellung, wie diese Schauspieler auf den Dorfplatz kommen und zu spielen beginnen. Da fällt mir natürlich Shakespeare ein, bei dem die Geschichte der Menschheit allen gehört, was der Grund dafür ist, warum er noch immer ein Publikum hat. Das ist vielleicht auch der Grund, warum Brecht jetzt wieder aktueller ist als vielleicht noch vor zehn Jahren. In den Geschichten, die du darstellst, spürt man deinen wirklichen Wunsch, mit den Menschen auf der Straße zu sprechen, zu allen. Dein Publikum ist also mehr die Menschheit im allgemeinen als eine bestimmte Gruppe. Ist das Publikum wichtig für dich?
NM Das Publikum ist sehr wichtig. Es ist eigentlich auch der Grund, warum ich mit Video begonnen habe. Um mehr Menschen zu erreichen und Arbeiten auch in Räumen, die keine White Cubes sind, zeigen zu können. Man muss daran denken, dass Galerien hier einschüchternde Räume für die Menschen von der Strasse sind. Sie gehen nicht hinein.
JP-J Das ist wohl überall ein Problem.
NM Ja, aber hier mehr als sonstwo. Das Prince of Wales Museum hingegen ist ein Ort für die Menschen, und deshalb gehen sie auch hinein. Sie kommen in Bussen aus anderen Teilen des Landes und haben das Gefühl, das gehört zum Tourismus dazu. Das ist also ein Grund, warum Video so wichtig für mich ist.
HUO Also was ist deine Vision für das Museum des 21. Jahrhunderts? Es ist nicht notwendigerweise so, dass ein Museum, das gut für Europa ist, auch gut für Indien ist. Mit China ist es dasselbe. Es ist eine Art homogenisierter Standard.
NM Ich glaube, wir nutzen das Radio und das Fernsehen nicht genug. Einige der Einkanalarbeiten, die wir gemacht haben, sollten wirklich im Fernsehen gezeigt werden. Ich glaube, das ist tatsächlich der Weg das Publikum zu erreichen, und das Internet.
HUO Also das Fernsehen sollte das Museum sein.
NM Fernsehen, Internet, Streamings auf der Strasse, Video Graffiti. Shilpa [Gupta] hat da einiges gemacht. Und bei Stadtfesten passiert auch sehr viel auf der Straße.
HUO Um nocheinmal auf das Museum als Museum zurückzukommen, wie würde ein Museum, das kein White Cube ist, funktionieren?
NM Ich bin nicht gegen Museen, um die Wahrheit zu sagen. Ich halte sie für großartige Orte, um etwas zu lernen. Uns fehlen solche Museen hier, und wir brauchen solche Museen in unserem Land. Wir haben keine, sie sind geschlossen. Wie ihr seht, ist die Nationalgalerie geschlossen. Es ist ein Mausoleum. Es hat Kunstbewegungen vor der Unabhängigkeit gegeben, etwa die Bengalische Schule und die Schule von Shantiniketan, die die jüngeren Künstler gar nicht mehr kennen, von denen sie keine Orginale gesehen haben. Für mein Gefühl ist es sehr schade, dass sie keine Geschichte haben, zu der sie zurückkehren können, auch keine Reproduktionen. Also wie kann man dann seine Geschichte nachverfolgen? Deshalb glaube ich, dass das Museum wichtig ist. Aber wenn man darüber spricht, was heute zu tun ist, und wie man die Kunst an ein größeres Publikum bringt, glaube ich, dass wir so etwas brauchen wie es Singapur hat – Einkaufszentren. (Lacht) Das ist ein anderer Weg. Ich habe gesehen, wie die Leute Kunst ganz unbewusst durch die Shopping Mall-Kultur aufnehmen.
HUO Ich habe mich gefragt, ob du schon einmal im öffentlichen Raum gearbeitet hast und ob du unrealisierte Projekte hast?
NM Ja. Die Wandzeichnungen in der Galerie machte ich vor Publikum. Die Leute konnten kommen und gehen und sogar Kommentare abgeben. So wie bei bestimmten Stammesgesellschaften hier, man fängt an, eine Seite seiner Hütte zu bemalen und alle gehen vorbei und sagen: »Das stimmt nicht ganz«, »Das passt nicht, mach’ es so.« Man versucht dann, alles miteinzubeziehen und etwas Interaktives daraus zu machen, was sehr schön ist.
HUO Und was ist deine Utopie? Hast du einen Traum?
NM Ja. (Lacht) Eine Theateraufführung draußen im Freien auf einem alten Parkplatz zu machen.
Aus dem Englischen von Christian Kobald
JULIA PEYTON-JONES ist Leiterin der Serpentine Gallery in London. Hans Ulrich Obrist ist Co-Leiter für Ausstellungen und Programme und Direktor für Internationale Projekte in der Serpentine Gallery in London.
NALINI MALANI, geboren 1946 in Karachi, Pakistan. Lebt in Mumbai. Ausstellungen: Sydney Biennial (2008); Irish Museum Of Modern Art, Dublin (2007); Living in Alicetime, Sakshi Gallery, Bombay und Rabindra Bhawan, New Delhi (2006); T1 The Pantagruel Syndrome, Castello di Rivoli Museo d’Arte Contemporanea, Torino; Biennale di Venezia (2005), Sharjah Biennial (2005)
Vertreten von ARARIO GALLERY, New York, Bodhi Art Gallery, Mumbai, New York, Berlin, Singapore
NM Ich habe Video bei »Medeamaterial« 1993 verwendet und dann 1998 meine erste Videoinstallation gemacht. Das war nach den indischen Atomwaffentests. Sie hatte den Titel »Remembering Toba Tek Singh«, eine Vierkanalarbeit mit Sound und 12 Monitoren. Auch diese Arbeit hatte etwas Theatralisches. Eine Kurzgeschichte des indo-pakistanischen Schriftstellers Sa’adat Hasan Manto war die Vorlage dafür, ein brillanter Autor von Kurzgeschichten. Es ist eine Geschichte, die jeder in Indien und Pakistan kennt. Meine Arbeit war eine Kritik an den Atomwaffentest, die beide Länder durchführten, um ihre sogenannte Macht zu demonstrieren. Was für eine dumme Idee. Aber natürlich waren alle ganz begeistert davon. Der Nationalstolz war auf seinem Höhepunkt. Ich habe die Arbeit im Prince of Wales Museum gezeigt, einem beliebten Museum für die indischen Touristen. Jeden Tag sind dreitausend Leute gekommen. Es hat eine ziemliche Debatte ausgelöst, die Leute haben mit mir gestritten und mich angeschrieen. Ich durfte die Arbeit nur für zehn Tage im Museum zeigen. Ich war jeden Tag dort.
HUO Siehst du dich als politische Künstlerin?
NM Come on, Hans Ulrich! So etwas kannst du mich nicht fragen. (lacht)
HUO Ich glaube, dass in einem gewissen Maße die ganze Idee des polititsche Künstlers zurückkommt.
NM Auch wenn man nichts Politisches macht, hat das Politische viel mit einem zu tun, egal ob man das gut findet oder nicht.
JP-J Jede Kunst ist politisch. Aber es gibt extreme Formen von politischer Kunst, wo das Politische vielleicht das Thema und die Motivation ist, Kunst zu machen. Das ist ein etwas anderer Zugang.
NM Ja. Ich bin weder an Propaganda, noch an Didaktik, noch an Postern interessiert, aber ich möchte auf meine eigene Art über das Politische sprechen. Das ist das einzige Werkzeug, das ich habe.
HUO Ich dachte Brecht bringt uns zum Politischen.
NM Stimmt. Nun, weißt du, ich habe Luce Irigaray gelesen, und schon sie spricht über die Differenz der männlichen und weiblichen Sprache. Jetzt ist es an der Zeit sich der weiblichen Subjektivität mit großer Aufmerksamkeit zuzuwenden, wenn man soetwas wie Fortschritt erreichen will. Das ist mein Interesse. Der religiöse Fundamentalismus verlangt die Unterwerfung der Frau. Es sind die Frauen, die die Kleidung der Religion tragen müssen. Es ist ihre Schuld, dass die Männer erregt werden, daher müssen sie von Kopf bis Fuß bedeckt sein.
JP-J Ich möchte nur noch einmal auf Brecht zurückkommen, denn es ist eine so unglaublich lebendige Vorstellung, wie diese Schauspieler auf den Dorfplatz kommen und zu spielen beginnen. Da fällt mir natürlich Shakespeare ein, bei dem die Geschichte der Menschheit allen gehört, was der Grund dafür ist, warum er noch immer ein Publikum hat. Das ist vielleicht auch der Grund, warum Brecht jetzt wieder aktueller ist als vielleicht noch vor zehn Jahren. In den Geschichten, die du darstellst, spürt man deinen wirklichen Wunsch, mit den Menschen auf der Straße zu sprechen, zu allen. Dein Publikum ist also mehr die Menschheit im allgemeinen als eine bestimmte Gruppe. Ist das Publikum wichtig für dich?
NM Das Publikum ist sehr wichtig. Es ist eigentlich auch der Grund, warum ich mit Video begonnen habe. Um mehr Menschen zu erreichen und Arbeiten auch in Räumen, die keine White Cubes sind, zeigen zu können. Man muss daran denken, dass Galerien hier einschüchternde Räume für die Menschen von der Strasse sind. Sie gehen nicht hinein.
JP-J Das ist wohl überall ein Problem.
NM Ja, aber hier mehr als sonstwo. Das Prince of Wales Museum hingegen ist ein Ort für die Menschen, und deshalb gehen sie auch hinein. Sie kommen in Bussen aus anderen Teilen des Landes und haben das Gefühl, das gehört zum Tourismus dazu. Das ist also ein Grund, warum Video so wichtig für mich ist.
HUO Also was ist deine Vision für das Museum des 21. Jahrhunderts? Es ist nicht notwendigerweise so, dass ein Museum, das gut für Europa ist, auch gut für Indien ist. Mit China ist es dasselbe. Es ist eine Art homogenisierter Standard.
NM Ich glaube, wir nutzen das Radio und das Fernsehen nicht genug. Einige der Einkanalarbeiten, die wir gemacht haben, sollten wirklich im Fernsehen gezeigt werden. Ich glaube, das ist tatsächlich der Weg das Publikum zu erreichen, und das Internet.
HUO Also das Fernsehen sollte das Museum sein.
NM Fernsehen, Internet, Streamings auf der Strasse, Video Graffiti. Shilpa [Gupta] hat da einiges gemacht. Und bei Stadtfesten passiert auch sehr viel auf der Straße.
HUO Um nocheinmal auf das Museum als Museum zurückzukommen, wie würde ein Museum, das kein White Cube ist, funktionieren?
NM Ich bin nicht gegen Museen, um die Wahrheit zu sagen. Ich halte sie für großartige Orte, um etwas zu lernen. Uns fehlen solche Museen hier, und wir brauchen solche Museen in unserem Land. Wir haben keine, sie sind geschlossen. Wie ihr seht, ist die Nationalgalerie geschlossen. Es ist ein Mausoleum. Es hat Kunstbewegungen vor der Unabhängigkeit gegeben, etwa die Bengalische Schule und die Schule von Shantiniketan, die die jüngeren Künstler gar nicht mehr kennen, von denen sie keine Orginale gesehen haben. Für mein Gefühl ist es sehr schade, dass sie keine Geschichte haben, zu der sie zurückkehren können, auch keine Reproduktionen. Also wie kann man dann seine Geschichte nachverfolgen? Deshalb glaube ich, dass das Museum wichtig ist. Aber wenn man darüber spricht, was heute zu tun ist, und wie man die Kunst an ein größeres Publikum bringt, glaube ich, dass wir so etwas brauchen wie es Singapur hat – Einkaufszentren. (Lacht) Das ist ein anderer Weg. Ich habe gesehen, wie die Leute Kunst ganz unbewusst durch die Shopping Mall-Kultur aufnehmen.
HUO Ich habe mich gefragt, ob du schon einmal im öffentlichen Raum gearbeitet hast und ob du unrealisierte Projekte hast?
NM Ja. Die Wandzeichnungen in der Galerie machte ich vor Publikum. Die Leute konnten kommen und gehen und sogar Kommentare abgeben. So wie bei bestimmten Stammesgesellschaften hier, man fängt an, eine Seite seiner Hütte zu bemalen und alle gehen vorbei und sagen: »Das stimmt nicht ganz«, »Das passt nicht, mach’ es so.« Man versucht dann, alles miteinzubeziehen und etwas Interaktives daraus zu machen, was sehr schön ist.
HUO Und was ist deine Utopie? Hast du einen Traum?
NM Ja. (Lacht) Eine Theateraufführung draußen im Freien auf einem alten Parkplatz zu machen.
Aus dem Englischen von Christian Kobald
JULIA PEYTON-JONES ist Leiterin der Serpentine Gallery in London. Hans Ulrich Obrist ist Co-Leiter für Ausstellungen und Programme und Direktor für Internationale Projekte in der Serpentine Gallery in London.
NALINI MALANI, geboren 1946 in Karachi, Pakistan. Lebt in Mumbai. Ausstellungen: Sydney Biennial (2008); Irish Museum Of Modern Art, Dublin (2007); Living in Alicetime, Sakshi Gallery, Bombay und Rabindra Bhawan, New Delhi (2006); T1 The Pantagruel Syndrome, Castello di Rivoli Museo d’Arte Contemporanea, Torino; Biennale di Venezia (2005), Sharjah Biennial (2005)
Vertreten von ARARIO GALLERY, New York, Bodhi Art Gallery, Mumbai, New York, Berlin, Singapore

Stories Retold: Mapping II, 2007