JK

Portrait Kendell Geers

No. 12 / Sommer 2007

Kendell Geers, Self Portrait, 1995
Über die verschlüsselten Strategien der Revolution
 Von INES GEBETSROITHER


Wir nehmen an, das Leben würde die Autobiographie hervorbringen wie eine Handlung ihre Folgen, aber können wir nicht mit gleicher Berechtigung davon ausgehen, das autobiographische Vorhaben würde seinerseits das Leben hervorbringen und bestimmen […]?
 (Paul de Man, Autobiografie als Maske)

Revolutionäre im klassischen Sinn sind Gesetzesbrecher, die sich gegen die Gesellschaft stellen und deren Regeln auf den Kopf stellen. Der Zusammenhang zwischen Revolution und Gesetz ist also evident. Aber nehmen wir einmal an, dass Revolutionäre nicht außerhalb des Gesetzes stehen. Dass es eben keinen Widerspruch zwischen Revolution und Gesetz gebe. Dass das, worauf das Gesetz beruht, seine Formulierung nämlich, sich ohnehin ständig in einem revolutionären Zustand befände, nämlich in permanenter und unvorhersagbarer Veränderung.1 Wir nehmen also an: Die Revolution finde täglich statt. Ihr Prinzip sei die Umwälzung und Neuformulierung der Regeln. Ihre Methoden: Camouflage, Verschlüsselung, Umdeutung. Kein Zufall wäre es also, dass K.O.lab alias KENDELL GEARS in der Neon-Installation »noitu(love)r« (2002) die Begriffe »Revolution« und »Love« kryptogrammatisch verknüpft. Liebe, hier entschlüsselt als die der Revolution inhärente Kehrseite. 

Sprache ist ein sich selbst reproduzierender Virus, der nur durch einen stärkeren, widerstandsfähigeren Virus zerstört werden kann. (Kendell Geers, The Affluence and the Effluence)

Kendell Geers’ Strategie ist das Clustering, das er aber nicht als ein unschuldiges Aneinanderreihen beliebiger (zufälliger) Assoziationen praktiziert, sondern das sich so offensiv wie kontrolliert der Grenze zwischen Rechtmäßigkeit und Illegalität bedient; das ohne Reue stiehlt, ausbeutet, subvertiert; das vordergründig keinerlei Angst hat vor schlechtem Geschmack, Banalität oder Sexismus; das Gewalt genauso integriert wie Risiko, reale Gefahr oder Pornographie. Doch worum geht’s in diesem oft brutal erscheinenden Spiel der Referenzen und Interferenzen? 
Zentraler thematischer Part in seinem Werk ist Geers selber, seine Identität als Künstler, als »TERROREALIST«2, als »schuldig« (in Südafrika, als Weißer) Geborener. Sein Geburtsdatum änderte er auf Mai 1968, jenen Monat, in dem folgende in seiner Arbeit »T.W. (C.V.)« angeführten Ereignisse passierten: »Marcel Duchamp stirbt«, »Martin Luther King ermordet«, »Proteste bei der Biennale von Venedig – letzte Teilnahme Südafrikas bis 1993«, »Unruhen in Paris«, »Südafrika von den Vereinten Nationen ausgeschlossen«, »Andy Warhol von Valerie Solanas angeschossen«. Bei »T.W. (C.V.)« handelt es sich um (s)eine »Künstlerbiographie« in Form einer Auflistung (und ergo Verschränkung) von historischen, kunsthistorischen und persönlichen Vorkommnissen, die mit dem 6. April 1652 beginnt, als Jan van Riebeek das Kap der Guten Hoffnung zur holländischen Kolonie erklärte – dem Ereignis, das grundlegend für Geers’ widersprüchliche, linguistisch gesprochen oxymoronische Existenz als »Weißer Afrikaner« oder »privilegierter Dritte-Welt-Bewohner« ist. »T.W. (C.V.)« ist aber gleichzeitig auch ein Selbstporträt in einem ganz speziellen Sinn: Eine Selbstdarstellung als Summe von Bezügen auf die eigene Biographie und Kunst und die Gewalttaten der Weltgeschichte. Ein Kryptoselbstbildnis, das einen Titel trägt, dessen Bedeutung ebenso erst entschlüsselt werden muss: »Title Withheld [Titel Zurückgehalten] (Curriculum Vitae)«. Auch Geers’ bekanntes »Self-Portrait, 1995 (Original destroyed on flight TW800)«, das aus einem abgebrochenen Heineken-Flaschenhals besteht, ist, im Titel zwar explizit, als Objekt dennoch eine Chiffre, die einerseits durch die Aufschrift am Etikett entziffert werden kann: »Imported from Holland«, wieder eine Anspielung auf die Herkunft seiner burischen Vorfahren; andererseits durch das erzählerische Moment, das an ihm ablesbar ist: die zerschmetterte Flasche als Code für den kruden Akt eines Rebellen, der wohl weniger für die Person des Künstlers als für dessen gar nicht so harmloses Selbstverständnis als Künstler steht. (Nicht von ungefähr schreibt Geers in seinem Text »I, TERROREALIST« ironisch, es genüge doch, den Hals von der In-Flight-Champagner- oder Rotweinflasche abzuschlagen, um damit die Kehlen von einem Dutzend oder mehr Passagieren aufzuschneiden, wenn schon die Nagelfeile oder der Nagelzwicker am Flughafen konfisziert wurde.) 
Noch einmal zurück zur Rhetorik des »Title Withheld«, das Geers über mehrere Jahre hinweg anstelle eines Titels setzte bzw. gemeinsam mit einer Bezeichnung (jeweils in Klammer) verwendete. Anders als die schlichte Geste der Verweigerung des »Ohne Titel« bedeutet »Title Withheld«, dass es zwar einen Werktitel gibt/geben könnte, dass der aber, durch eine Chiffre bzw. Leerstelle ersetzt, einen Verweis auf etwas anderes darstellt. Die Frage ist nur: Worauf? Handelt es sich hier, im Sinne Derridas, vielleicht gar nicht um »die Abwesenheit anstelle der Anwesenheit«, sondern vielmehr um »eine Spur, die eine Anwesenheit ersetzt, die nie anwesend war, ein[en] Ursprung, mit dem nichts begann«?3 Um einen schlauen Hint Geers’ auf seine künstlerische Methode generell, in deren Zentrum die rücksichtslose Verwertung unzähliger Referenzen steht und in der die Idee eines »richtigen« Originals gar nicht mehr existiert, da sie davon ausgeht, dass sämtliches kulturelles Gut ohnehin nur Plagiat ist?

Es hat mit diesem Prozess des Namengebens um der Kontrolle willen zu tun, von dem der Erfolg der »Brave New World« weitgehend abhängt. Dieser Prozess passiven Konsums und der daraus resultierenden Umkodierung von Realität läuft auf einen kulturellen Überfluss in derselben Art hinaus, wie Rohstoffe im Produktionsprozess als  Verpester unserer natürlichen Ressourcen enden. Genau so wie das Überleben unseres Planeten von der Reduktion schädlicher Emissionen abhängt, muss der kulturelle Müll, mit dem wir gefüttert werden, recycelt und destilliert werden. Kendell Geers, The Affluence and the Effluence  

Sein »Title Withheld (Stolen Idea)« (1995) ist eine offensichtliche Paraphrase von Gabriel Orozcos »Yielding Stone« (1992), einer großen Plastilinkugel, die Orozco so lang durch die Straßen rollte, bis sie so viel Straßenschmutz aufgesammelt hatte, dass sie exakt so viel wog wie der Künstler. Kendell Geers bezeichnet im »Titel«, der wieder aus Leerstelle und »Erklärung« besteht, die Arbeit als Diebstahl, als »gestohlene Idee«, ein ironischer (um nicht zu sagen: zynischer) Fingerzeig auf das, was es ist (damit re-kriminalisiert Geers einen eigentlich illegitimen Akt, der aber innerhalb der geschützten Kunstsphäre legitim und, nicht nur unter dem Stichwort Appropriation, sogar mehr als gebräuchlich ist) – ohne aber weitere, verborgenere Bezüge auszuschließen: etwa die Frage, warum ausgerechnet diese Arbeit, die ja wiederum, und sicherlich nicht nur in Form der Gewichtsäquivalenz, selber eine Art Kryptoselbstporträt darstellt. Geers zitiert den Mexikaner Orozco, dessen Arbeit sich verschiedener Aneignungs- und Dekontextualisierungsstrategien bedient, übrigens mehrmals. Zum Beispiel ist »Fuckface« (2005), einer seiner jüngeren Arbeiten, die auf die Uneindeutigkeit des »Title Withheld« verzichten und im Titel oft äußerst explizit sind: Ein Zitat von Orozcos »Black Kites« [Schwarzmilane, eine Vogelart, die sich bei menschlichen Abfällen auf Müllhalden oder Straßen bedient] von 1997, mit Karomustern bemalte Schädel. Geers ersetzt dieses Muster durch ein anderes, ein Textmuster, das aus der Wiederholung und  Spiegelung des (Schimpf-)Wortes »FUCK« besteht und dennoch eher wie ein Ketten- bzw. Stacheldrahtmuster aussieht4 und das im Übrigen viele seiner neueren Arbeiten überzieht oder konstituiert, darunter die besprayte Madonnenfigur »Holyfuckingvirgin« (2006) oder die Neonarbeit »Fucking (Black) Heart« (2006). 
Tatsächlich ist Kendell Geers’ Cluster um einige Grade roher und direkter als das mitunter sehr poetische Referenzsystem Gabriel Orozcos, auch wenn die Bezüge hinter dem Offensichtlichen meist noch weiterlaufen. Er bildet sich nicht um die Metapher eines aus dem Müll der modernen Zivilisation Pickenden, dem gemeinhin Missachteten Achtung Schenkenden herum. Geers’ Cluster setzt sich aus Hardcore-Elementen zusammen. Es interessiert sich nicht für das Arme, das Opfer, sondern für die Täterschaft. Dass der Künstler mit dem Täter ident ist, liegt da auf der Hand – seine (einmal offengelegten) Spuren durchziehen das gesamte Werk. »Mondo Kane« (2002) zum Beispiel, ein mit grünen Glasscherben gespickter Betonquader – ein fast von einer Minimal-Ästhetik geprägtes Objekt, wären da nicht die spitzen, gefährlich aussehenden Scherben. Hier bringt wieder der Titel einiges mit ins Spiel, eine Zusammenziehung aus »Mondo Cane« und »Citizen Kane«, zwei filmische Verweise, die man sich genauer  ansehen muss. Die »Mondo«-Filme, darunter »Mondo Cane« als der wohl bekannteste, sind Shockumentaries aus den 1960ern und 1970ern, die vorrangig Gewalt(täter) dokumentierten, Serienmörder, Sadisten oder Folterungen und die in einigen Ländern zensuriert bzw. verboten wurden. Und Orson Welles’ »Citizen Kane«, dessen Handlung wohl auch Aufschluss über die Künstler/«Täter«-Identität Kendell Geers gibt – ist sie doch gekennzeichnet durch einen fragmentarischen, nicht-linearen Charakter und zeichnet die Biographie des Protagonisten Kane, die der Zuschauer/die Zuschauerin sich wie ein Puzzle selber zusammensetzen muss, nur bruchstückhaft nach. Genau das (die Zersplitterung) kommt im Film als Metapher mehrmals vor: Da wird etwa tatsächlich ein Puzzle gelegt, oder eine Krankenschwester spiegelt sich in einer zerbrochenen Schneekugel. Da ist man von der Discokugel nicht mehr weit entfernt, die zwar nicht leitmotivisch wie die Glasscherbe, aber doch mehrmals in Geers verwobenem Œuvre auftaucht: in »Post Pop Fucking Fuck« (2006) als slickes, mit dem »Fuck-Muster« bespraytes, tautologisch betiteltes Objekt zum Beispiel. Oder, früher, in »Deep Throat« (2002), wo sie als Projektionsmedium dient, über das maßgebliche Szenen aus dem gleichnamigen Pornofilm von 1972 gesplittet an die Wand geworfen werden. Wieder zündet sich die weiterführende Erzählung selbst: »Deep Throat« – der bald verbotene Skandalporno über eine Frau, deren Klitoris in der Kehle steckt – war Teil von Mafiageschäften, weshalb sein Darsteller Harry Reems, als Bauernopfer, wegen Verschwörung gegen den Staat nach Einschaltung des FBI verurteilt wurde. Linda Lovelace, die die Protagonistin spielte, sprach später in Vorträgen von der Gewalt und der Angst, der sie während des Drehs ausgesetzt war. Im Entstehungsjahr von Geers’ Arbeit wurde ihr Körper bei einem Autounfall völlig zerschmettert.
Pornographie bzw. Prostitution in Form von Hardcore-Zitaten benutzt Geers emblematisch, vor allem auch in Zeichnungen (Tinte auf Papier) oder der Wandarbeit »La Sainte Vièrge« (2005), in der Geers pornographische Darstellungen von masturbierenden Frauen mit einem Picabia-Zitat (»La Sainte Vièrge«, 1920, ein Farbklecks) kombiniert und durch reale Kondome und zerbrochene Flaschen am Boden ergänzt. In der Installation »Truth or Dare (Jan Hoet)« (2001) wiederum ist die Stimme einer Domina zu hören – angeblich, während Jan Hoet sie aufsuchte. Die Arbeit besteht aus einem Haufen Megaphonen, wie sie von der Polizei oder bei Demonstrationen verwendet werden, aus denen der Sound kommt. In diesem Kryptoporträt des Kurators Jan Hoet spiegeln sich noch viele weitere Facetten, die explizite oder nicht explizite Teile von Geers’ Clustersystem darstellen: Die Musikdoku »In Bed With Madonna«, die in Amerika unter dem Titel »Truth or Dare« lief, ist eine davon, mit Madonnas berühmter Masturbationsszene, die auch Teil ihrer »Blond Ambition Tour« war, wofür sie in Toronto beinahe von der Polizei verhaftet worden wäre; und in der auch das Wagnisspiel »Truth or Dare?« [dt. Wahrheit oder Pflicht, ähnlich dem »Flaschendrehen«] gespielt wird und Madonna Oralsex mit einer Flasche vorführen muss ...

DYNAMIK DER KRYPTOGRAPHIE
Die Serie »Seven Deadly Sins« (2006), sieben Neonleuchtzeichen, die je für eine der Todsünden stehen, transportiert in der Darstellung von »LUST« [Wollust] als ein Ambigramm, über zwei Achsen gespiegelt, die versteckte Bezeichnung »SLUT« [Nutte], in der Darstellung von »PRIDE« [Hochmut] das Wort »DIE«, in der Darstellung von »WRATH« [Rachsucht] die Begriffe »WAR» und »RAW«. Die Serie spielt auf Bruce Naumans Neon-Arbeiten an, die ebenfalls auf Wortspielen beruhen, zum Beispiel »Raw-War« (1970), ein Palindrom, oder »Violins Violence Silence«, einer mehrfachen Spiegelung bzw. Überlagerung der (friedlichen) Begriffe »Violins« und »Silence« zu »Violence«, Gewalt. Und doch ist der Subtext, den Geers in seinen Arbeiten genauso wie in seinen Texten mitliefert, ein anderer. Es ist der Subtext des Revolutionärs, der die Dynamiken des Geheimnisses nutzt, um die Welt mit seinen Vorstellungen zu infiltrieren. 







INES GEBETSROITHER ist spike-Redakteurin und lebt in Wien.


KENDELL GEERS, geboren im Mai 1968 in Johannesburg (Südafrika), lebt in Brüssel. 


Vertreten von Stephen Friedman Gallery, London; Galleria Continua, San Gimignano/Beijing; Galerie Rodolphe Janssen, Brüssel; Goodman Gallery, Johannesburg/Kapstadt; Yvon Lambert, Paris

Holyfuckingvirgin, 2006
Kendell Geers, Deep Throat, 2002
Seven Deadly Sins, 2006