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Artist's Favourites

No. 12 / Sommer 2007

Von Oleg Kulik

Mir gefallen KünstlerInnen, deren Arbeiten auf Gefühl beruhen und nicht auf Intellekt. Im Moment ist die Situation der russischen Kunst aber so, dass das bloße Skizzieren einer Projektidee, die in eine schöne Formulierung gebracht wird, schon als Kunstwerk durchgeht. Das ist sehr schlecht, denn es führt zur Verkümmerung der Begrifflichkeit dessen, was ein Kunstwerk ist. So kommt es dazu, dass ein Werk der zeitgenössischen Kunst als Illustration irgendeiner Äußerung gilt. Es sollte erwähnt werden, dass die besten Künstler einer älteren Generation, etwa Bulatov, Kabakov, Michajlov, dies hervorragend verstanden haben. Formal »arbeiteten« sie zwar als Illustratoren konzeptualistischer Äußerungen, haben dabei aber keineswegs ihre essentielle Verbindung mit der Realität verloren. Als Resultat schufen sie nicht nur lebendige Kunstwerke, sondern explizit etwas, das mit eigenen intensiven Erlebnissen in Verbindung stand. Einer: den Himmel, der andere: die sowjetische Kommunalwohnung, der Dritte: Menschen aus der Gosse. Und alle drei können von der Realität nicht lassen. Eine neue Generation von Künstlern, von den fünf Interessantesten will ich erzählen, beweisen mit ihrer Arbeit, dass die Zeit der Konzeptkunst vergangen ist und eine neue Phase beginnt, die man als »neue Aufrichtigkeit«, »neue Ernsthaftigkeit« oder »neue Religiosität« bezeichnen kann.

Wie heisst dieser platz?, 2006

Viktor Alimpiev

Der Impuls zu einem Projekt ist ein Ereignis, ein Erlebnis, eine Wahrnehmung, die von Außen kommt. Dies trifft insbesondere auf Viktor Alimpiev zu, der das auch deutlich ausspricht. Er wartet auf etwas, etwa eine Handbewegung oder ein komisches Wort, das irgendjemand auf der Straße sagt und das ihm dann nicht mehr aus dem Kopf gehen will. Ausgehend davon entspinnen sich Vorstellungs- und Gedankenfäden. Deshalb steht seine Kunst auch mit der Realität in Verbindung. Eine Menschenmasse, die in einem – für Russen unverständlichen – Deutsch redet. Das Video ist derart montiert, dass klar wird: Es handelt sich um eine Masse von Menschen, die von irgendeiner  unverständlichen Energie erfüllt ist. Auf den ersten Blick eine sehr gesellschaftspolitische Arbeit, die aber gleichzeitig mit politischen Realitäten nicht in Verbindung gebracht werden kann. Also eher Metapolitik. Ich würde sagen, dass durch das, was Viktor macht, eine neue und bislang unerkannte Religiosität schimmert, die nicht mit einem fixierten Wissen, sondern mit Suche in Verbindung steht. *1973 in Moskau, lebt in Moskau
 
Verlorenen Zwillingen, 2006

Dmitrij Bulnygin

Bulnygin ist das genaue Gegenteil von Alimpiev. Er positioniert sich als erfahrener Materialist und denkt nicht, dass das, was er macht, eine Spiegelung der Magie der Realität darstellt. Bulnygin befindet sich in seiner eigenen Metaphysik. Seine Realität findet sich in seiner Poetik wieder, und wenn man diese Poetik zu definieren versuchte, wäre es eine Metaphysik »von unten«. Sie ist meiner eigenen physiologischen, zoophrenischen Periode nahe und plädiert für den Durchbruch zum Authentischen durch das »Niedere«, wobei das Authentische bekanntlich stets metaphysisch ist. Wenn man die Unterschiede zwischen ihm und den »Sinie nosy« (»Blaue Nasen«), die er mitbegründet hat, sucht, kann die wichtige Beobachtung gemacht werden, dass seine Arbeiten nie auf die Gesellschaft reagieren. Es ist durchaus zulässig zu sagen, dass es sich bei den »Sinie nosy« um Journalisten handelt, während Bulnygin ein Künstler ist. *1965 in Novosibirsk, lebt in Novosibirsk
 

Alla Esipovic

Auf den ersten Blick fügt sich Alla Esipovic in eine Reihe russischer KünstlerInnen wie Michajlov und Bratkov ein. Sie alle fotografieren hässliche Menschen, aber der Blick von Bratkov und Michajlov ist hart und von oben herab, Esipovic’ Blick hingegen ist menschlicher, mit ihren Arbeiten transportiert sie eine besondere – ich fürchte hier den Pathos nicht – Wärme. Ich verstehe, dass man daran eigentlich nur sehr schwer festhalten kann, denn von einem zeitgenössischen Künstler werden ständig Konzepte eingefordert. Während etwa Alimpiev seine Beziehung zur Realität als eine metaphysische formuliert, dabei aber eine pragmatische, deutliche und intellektuelle Sprache verwendet, formuliert Alla  diese nicht explizit. Sie nimmt die Realität von Sankt Petersburg, in der wirklich alle unglücklich sind und alleine, sich aber alle gleichzeitig dabei wie Stars vorkommen. Alla sucht als Künstlerin das, was sie versteht und wofür sie sich verantwortlich fühlt, im Unterschied zu anderen, die irgendetwas in Büchern gelesen haben oder sich auf eine Thematik beziehen, die in ihrer Umgebung nicht wahrgenommen wird. Wenn Esipovic’ ihre Verbindung zu ihren Themen bewahren kann und nicht irgendwelche modischen Themen nacherzählt, wird ihr Kanal an Empfindsamkeit sie noch weit bringen. Mir gefallen ihre künstlerische Leidenschaft und ihr Wunsch nach Kunst. *1965 in Leningrad, lebt in St. Petersburg
 
Smiles, 2007

Irina Korina

Irina Korina verwendet in ihren Arbeiten Materialien, wie sie Heimwerker in der sowjetischen Zeit zur Verschönerung gebrauchten, geschmacklose, einfache oder sehr qualitätsvolle Materialien. Wenn du diese Objekte siehst, erinnern sie dich an vieles. Das sind rein poetische Objekte. Irina ist von ihrer Ausbildung her Bühnenbildnerin, was ihr fantastisches Vermögen, mit Raum zu arbeiten, erklärt. Ihre Installationen transformieren den realen Raum jeweils völlig, verändern seine Konfiguration und seinen Maßstab. Das ist auch eine Art von Bühnenbild, nur ist die Bühne nicht für Schauspieler, sondern für die Betrachter bestimmt, die in den Ausstellungen von Korina jenes aus Alpträumen bekannte Gefühl eines Menschen durchleben, der plötzlich auf einer Bühne steht und nicht die leiseste Ahnung davon hat, was er machen muss und wie er überhaupt hierhergekommen ist. Ungeachtet des ganzen Retroglamours wirkt dieses Design irgendwie selbst gemacht. Bei genauem Hinsehen erkennt man im verschnörkelten Möbelstück den vergrößerten Teil eines Mobiltelefons. Ein in seiner Extravaganz vorsätzlich schickes Interieur, das du für eine exklusive Bar hältst, verwandelt sich plötzlich in ein vergrößertes Puppenhaus. So könnte ein Mädchen aus einer nicht übertrieben reichen Familie das Zimmer für ihre Barbie einrichten. *1977 in Moskau, lebt in Moskau
 

Sinij sup

Die Poetik von »Sinij sup« folgt wie jene von Alimpiev in vielem der Logik von Träumen. Wir erinnern uns an eine ihrer Arbeiten, ein Auto am Ufer eines Sees. Sehr eigenartig. Aber im Unterschied zu Alimpiev entfernen sie sich von der Gesellschaft. Ihre Arbeiten sind dabei sehr visionär. Sie arbeiten an der gesellschaftlichen Peripherie, in ihren Videoinstallationen geben sie einen Zustand von Angst und Depression wieder. »Sinij sup« unterteilen die Welt in Soziales und Existenzielles, lassen aber das Soziale verschwinden und bringen das Existenzielle zum Vorschein. Mit ihren Arbeiten sagen sie: Die Schrecken der uns umgebenden Welt sind weit weg, bei uns ist es still und ruhig, aber in dieser Stille liegt eine kommende Unruhe. Ich denke, dass »Sinij sup« dort weitermacht, wo die Künstlergruppe »Fenso« aufgehört hat. »Fenso« entwickelte Mitte der 1990er eine für die russische Szene neue künstlerische Sichtweise, verschwand aber als Gruppe wieder bald aus der Kunst. 
Gegründet 1996 durch Alex Dobrov, Daniel Lebedev und Valery Patkonen. Seit 2002 Zusammenarbeit mit Alexander Lobanov. Leben in Moskau
 
 
OLEG KULIK, geboren 1961 in Kiew/Ukraine. Der Performancekünstler, Bildhauer  und Kurator wurde in den 1990er Jahren vor allem durch seine Performances als Hund (»Mad Dog«, »Reservoir Dog« und »I Bite America and America Bites Me« international bekannt, in denen er, von der Tierwelt ausgehend, ein natürliches, auf Instinkten basierendes (»zoophrenisches«) Modell für menschliche Beziehungen vorschlägt. Kulik war an zahlreichen internationalen Ausstellungsbeteiligungen beteiligt, u.a. Manifesta I (1996), São Paolo Biennale (1998), Biennale von Venedig (1999/2005), Tate Modern (2000), Tretjakow Gallery, Moskau (2005), Ludwig Museum Budapest (2007). Er lebt in Moskau.