
CIAP, Hasselt 2011
In den letzten Jahren zeigte die Kunstwelt ein immer stärkeres Interesse für Live-Acts und zeitbasierte Praktiken. Es wurde viel über Performance und Performativität geschrieben, aber es wurde denjenigen zu wenig Beachtung geschenkt, deren Arbeit die engen Grenzen der Disziplinen Tanz, Performance und bildende Kunst erweitert haben. Das versuchte FILIPA RAMOS, als sie den schwedischen Performance-Künstler-Tänzer-Choreografen-Produzenten-Autor MÅRTEN SPÅNGBERG zu vier Begriffen befragte: Raum, Rhythmus, Erwartung und Verkörperung. Das Ergebnis dieser Begegnung lässt sich schwer beschreiben, da Gedanken, Konzepte und Wörter munter und wild herumsprangen. In einer so überwältigenden Geschwindigkeit, dass die Aufzeichnung selbst ein performativer Kraftakt war.
RAUM
Architekten haben Angst vor Unordnung und Chaos. Architektur unterwirft und domestiziert Raum. Wir neigen dazu, Raum als etwas Stabiles zu betrachten, von dem aus etwas entwickelt werden oder sich öffnen, interagieren kann. Mich interessieren Räume, die ihren eigenen Verfall, ihren Zusammenbruch oder ihre Unterhöhlung in sich tragen: Räume, die aktiv Ungewissheit und Instabilität erzeugen. Die Räume, die mich interessieren, versagen dramatisch, versinken, werden verschlungen. Die Implosion macht Räume aktiv und produktiv »wovon auch immer«, oder anders gesagt, sie produzieren (oder werden produktiv) durch bloße Notwendigkeit, ein Fall von »ex nihilo«.
Die Moderne mit ihren Erzählungen rund um das liberale, individualisierte Subjekt, den »klassische Kapitalismus« und das Privateigentum neigt (oder neigte) dazu, Raum im Sinne von Besetzung zu verstehen – was sich vom Begriff der Nation bis zu den Occupy-Bewegungen an einer Vielzahl von Beispielen zeigt. Irgendein Ding besetzt, was noch frei ist, und Räume werden mit Strategien gefüllt, die an einer opportunen, lückenlosen und legitimierten Subjektivität festhalten. Raum wird über Gesetze, Messbarkeit und Macht verstanden. In diesem Sinn war die Occupy-Bewegung – die verzweifelt die Anerkennung durch den herrschenden Diskurs suchte – von Anfang an zum Scheitern verurteilt.
Ich würde Raum eher über eine andere Metapher als Besetzung verstehen: Schimmel. Schimmel und Pilze besiedeln Räume, die nicht mehr leer sind. Pilze ziehen nicht ein: nichts muss ausgeräumt oder umquartiert werden. Pilze besetzen nicht, sie überlagern. Damit diese Überlagerung allerdings wirksam sein kann, muss sie an den Raum auf unterschiedliche Weise herangehen, oder zumindest mit verschiedenen Formen von Subjektivität experimentieren. Es ist nicht so, dass der Schimmel sich einen Raum teilt, wie ein Doppelzimmer mit zwei Einzelbetten. Nein: Schimmel ist dem Raum unverträglich, er hat die Kraft, ihn auszuhöhlen und zu zerstören. Für mich ist der Zerfall Baumaterial. Die Zerstörung ist eine Raumpraxis.

Mich interessiert die Spannung zwischen Perspektive und Horizont. Ich hege eine Skepsis gegenüber dem Primat der Perspektive, das seit dem Ende des 18. Jahrhunderts herrscht. Durch ihren Angebotscharakter und ihr Verwertungsinteresse ist für mich Perspektive immer vereinfachend, diskursiv, gerichtet und funktional: Perspektive ist stellvertretend für Ökonomie, Territorialität, Reflexivität und Trivialität. Ich verstehe Horizont als nicht-territorialisiert, er entzieht sich der Messbarkeit und Gerichtetheit, und daher der Ökonomie. Perspektive kann in Hinblick auf Offenheit, Verhandelbarkeit und Teilbarkeit verstanden werden, doch der Horizont ist unbedingt und bereit, erobert, verbraucht und ausgelöscht zu werden. Perspektiven sind nicht notwendigerweise fix, aber sie bilden einfach dauerhafte und stimmige Verhältnisse. Anders gesagt, Perspektive ist messbar, während es beim Horizont um Intensität geht.
In der westlichen Welt haben wir die letzten 250 Jahre (angesichts der Geburt des modernen Subjekts und so weiter) Rhythmus als Funktion des Raums behandelt – nicht zuletzt durch komplizierte Notationssysteme oder Musik-Software. Rhythmus wurde architektonisch und perspektivisch. Kann man behaupten, dass Komponisten Angst vor Klang haben und mit ihren Kompositionen die Musik unterwerfen wollen? Rhythmus sollte als Horizont und über seine Intensität verstanden werden, nicht als Reihe schwacher, durch starke und dauerhafte Verhältnisse ver bundene Elemente. Im Gegenteil, Rhythmus besteht aus starken Elementen mit schwachen und unscharfen Verbindungen.
Um mit Deleuze zu plaudern – zu denken, dass Strukturen großartig sind, Strategie schlecht, Taktik unterschätzt – Position, Statement, Definitionen sind so von gestern! Deleuze betont die Notwendigkeit einer Transformation von Wandel und Geschwindigkeit. Als Horizont und Intensität verstanden ist Rhythmus etwas, das seine Geschwindigkeit und sich selbst verändern kann.

MDT, Stockhom 2012
Vor Kurzem ist mir aufgefallen, dass ich immer ein Problem damit hatte, aufzutauchen. Ich meine damit nicht, dass ich immer zu spät gekommen oder am falschen Ort gelandet bin, das wäre eigentlich recht cool. Vielmehr war ich nie in der Lage, mir zukünftige Möglichkeiten vorzustellen (folglich zu planen), unfähig im Voraus etwas zu beurteilen oder einzuschätzen.
»Großartig, dass du« – das bin ich – »ein Typ bist, der be hutsam und mit Respekt auf die Welt zugeht, ein nachdenkender,« – und jetzt kommt’s – »guter Mensch«. All das in Opposition zu Naivität, Unwissenheit und Unschuld. Aber gibt es eine dritte Möglichkeit, neben der Vernunft und dem esoterischen Hippie-Quatsch? Aufzutauchen wäre ein Ausweg, ein Ansatz oder vielleicht ein Schlusspunkt. Aufzutauchen ist wirklich nicht einfach. Godard sagte (Nicht schon wieder! Wieder ein kleiner denkwürdiger Satz, der die Argumentation unangreifbar macht), dass es kein »richtiges Bild«, sondern »nur ein Bild« gebe. Das zeigt das gleiche Rätsel oder Dilemma: nicht ein legitimiertes, einordenbares oder moralisches Bild, sondern einfach ein Bild, das auftaucht, ohne Vorgriff, Erwartung oder telos. Wir stehen einmal mehr vor einer zweifachen Herausforderung: Wie vermeidet man das »nur« zu moralisieren? Und wie vermeidet man strategisches Auftauchen, geleitet von Ökonomie, Angebots- und Investitions charakter?
Godards Worte entstammen einer spezifischen politischen Vorstellungswelt, die sich in vielerlei Hinsicht fundamental von unserer gegenwärtigen misslichen Lage unterscheidet. Auftauchen hat nichts damit zu tun, sich von etwas zu befreien; es ist keine Pädagogik, sondern es geht darum, die Vorstellung zugunsten eines anderen Prozesses zu umgehen. Oder besser gesagt, zugunsten einer anderen Produktion, die nicht erschafft, nicht an die Imagination (und damit an das Mögliche) gebunden ist, sondern sich stattdessen auf Potenzialität bezieht – oder besser, auf Alain Badious Begriff des Wahrheitsprozesses.

Austellungssansicht »Melanchotopia«, Witte De With (offsite)
VERKÖRPERUNG
Identitätspolitik und das ganze Paket der Performativität erscheinen allzu romantisch. Sicher, Judith Butler und all die anderen waren unglaublich wichtig, aber vielleicht sollte man auch Gedanken ein Ablaufdatum geben, nicht nur Milch. Unsere Gesellschaften waren anders zusammengesetzt, als diese Dinge entwickelt wurden. Heute ist Performativität so neu wie der Wohlfahrtsstaat in den 60er und 70ern. Brauchen wir nicht eine Gegenbewegung, um uns aus den Fesseln der Performativität zu befreien? Man kann nur vermuten, was heute das Äquivalent zu Woodstock wäre. Sicher nicht Occupy Wall Street und sicher nicht die Berlin Biennale. Ich glaube, die ganze Idee eines Festivals oder Events ist indiskutabel. Das Problem mit der Verkörperung (oder ihrem Gegenteil) ist, dass sie das menschliche Bewusstsein als gegeben voraussetzt, sie ist sowohl anthropo- wie logo-zentrisch. Nicht der Körper ist das Problem (zumindest nicht im negativen Sinn). Das Problem ist das Bewusstsein: das menschliche Bewusstsein und seine Überlegenheit gegenüber allem anderen. Man muss erkennen, dass die »Semiotisierung« von Subjekt und Körper durch Performativität mit der allgemeinen Bewegung hin zur Finanzialisierung der Welt zusammenfällt. Semiotik ist der Zugang zu diesem Prozess, die Finanzialisierung von Bedeutung.
In einem bestimmten historischen Moment hatte Performativität eine emanzipatorische Kraft, aber heute, in einer völlig anders gestalteten Welt, wurde sie zu einem Geschäft. Ich erinnere mich, als Robbie Williams bei einer MTV Gala so etwas gesagt hat wie: »Ich möchte MTV für meine drei Häuser, fünf Autos und meine Supermodel-Freundin danken.« Das war sehr lustig, aber jetzt klingt es ziemlich schal. Er hätte sich für seine Performativität und für ihre Legitimierung durch eine andere Performativität, nämlich der von MTV, bedanken sollen. Heute hat der wertvollste Besitz nichts mehr mit materiellen Dingen zu tun, Autos, Villen oder Mädchen. Nein, der wertvollste Besitz ist die eigene Subjektivität, mit der man an der Welt durch Performativität teilhat.
Heute ist die Auseinandersetzung mit Verkörperung sicher nicht das interessanteste Problem. Um den Philosophen Graham Harman zu paraphrasieren, ist heute nicht die Beziehung zwischen Geist und Geist oder Körper und Geist oder Geist und Körper das interessante Problem: das wirkliche Problem ist die Beziehung zwischen Körpern und Körpern. Nicht nur zwischen menschlichen Körpern, oder menschlichen Körpern zu anderen Objekten, sondern auch und vor allem die Beziehung zwischen Objekten und Objekten. Die erste Aufgabe ist es, sich diese Beziehungen ohne uns und unser Bewusstsein vorzustellen. Also nein zur Verkörperung und ja zum Körper, nein zum Körper aus der Perspektive des Bewusstseins und ja zum Körper als Objekt. Darüber hinaus ein Objekt mit einem Bewusstsein, das sich nicht darum kümmert, welches Bewusstsein auch immer wir haben oder nicht.
Aus dem Englischen von Ruth Ritter
MÅRTEN SPÅNGBERG (*1968) ist Performer, Choreograf, Künstler und Autor. Seit 1999 arbeitet er an Solostücken und umfangreicheren Performances, mit denen er international tourte. Er arbeitete mit Xavier Le Roy, Tom Plischke, Lynda Gaudreau und Tino Sehgal zusammen, und gastiert zur Zeit mit »The Dancing Seminar« am MoMA P.S.1 in New York. Er lebt in Stockholm.
FILIPA RAMOS ist Kritikerin und lebt in Mailand und London.

Contemporary Art Centre Vilnius 2011