»Epiphanien«, Galerie Meyer Kainer, Wien 2011 (Courtesy Galerie Meyer Kainer)

Ein erhabenes Gelingen


 Pier Luigi Tazzi
 

1986 war ein besonders heißer Sommer in Holland. Eines Abends lud uns Saskia Bos, die Kuratorin der Sonsbeek 86, zum Abendessen in eine Villa am Land zwischen Arnhem und Otterlo ein. Die Villa lag in eine jener großartigen holländischen Landschaften, wie man sie von Jacob van Ruisdaels Malereien kennt. Hier begegnete ich zum ersten Mal Franz West, denn wir waren Tischnachbarn am Ende einer großen Tafel. Er war in einer Kombination von denselben leuchtenden, grellen Tönen gekleidet, die ich später in einigen seiner Arbeiten wiedererkennen sollte und die mir an jenem Abend weniger bizarr als vielmehr unheimlich erschienen. Er sprach mit mir über die Bedeutung von eleganter Kleidung und seiner Abneigung gegenüber dem Biedermeier.

Ich wusste, wer er war, denn ich hatte nicht nur auf der Sonsbeek 86 Arbeiten von ihm gesehen, sondern auch etwa ein Jahr davor in einer außergewöhnlichen, von Harald Szeemann im Kunsthaus Zürich kuratierten Ausstellung. Sie trug den wunderbaren Haiku-Titel »Spuren, Skulpturen und Monumente ihrer präzisen Reise«. Neben Medardo Rosso, Alberto Giacometti und Louise Bourgeois stellten die Arbeiten von West einen Bruch mit der so einheitlichen Ausstellungslinie dar: Es waren annähernd rechteckige, vertikal geneigte und gleichmäßig bemalte Formen, deren raue Oberfläche sich entlang einiger Kanten nach innen krümmte. Die Farbe auf dem unbestimmten Material war unrein und deutete auf eine verlorene Pracht, die jetzt ohne Scham wiedererweckt und zur Schau gestellt wurde.

Kurz darauf entdeckte ich seine Passstücke, eine Art von Prothesen ohne jeglichen praktischen Nutzen für einen Körper. Es waren Skulpturen, die weniger zum Betrachten als vielmehr zum Angreifen und Hantieren geschaffen wurden. Sie sollten nicht die Vorstellung sondern ein physisch-mentales Zusammenspiel in Gang setzen und erreichten so die Kraft des Unmittelbaren. Aus diesem Geist stammen auch die Möbel, Sessel und Sitzgelegenheiten aus recyceltem Metall, die häufig in Zusammenarbeit mit anderen wie etwa Mathis Esterhazy entstanden, mit dem West viele Jahre zusammenarbeitete. Seine vorwiegend serielle Arbeiten in den bevorzugten Materialien Gips und Papiermaché, entfalteten in Verbindung mit Malerei ihre ganze Kraft. Ob es sich nun um jenes Kalkweiß handelte, von dem er bisweilen sagte, er habe es im mediterranen Licht entdeckt, oder um jene leuchtende Vielfarbigkeit, in welcher der Zufall den Gestus und der Moment der Überraschung das Programm dominiert, tauchte ein absolut neuer Aspekt der Malerei auf, die stofflich wurde und ein Volumen bekam; es war ein Magma von kostbarer und abgründiger Sinnlichkeit, das die historische Unantastbarkeit der illusionistischen Oberfläche hinter sich zu lassen vermochte. In einer Ausstellung im Kröller-Müller Museum in Otterlo 1996 wurden seine Werke Arbeiten schließlich jenen von Van Gogh aus der Sammlung gegenübergestellt. Weder vor noch nach dieser Ausstellung trat seine Kunst jemals wieder so klar aus ihrem großzügigen Solipsismus heraus wie bei dieser Gegenüberstellung mit einem anderen großen Künstler, der seine eigene Existenz, im Glück wie im Unglück, auf die Malerei gründete.

Extroversion, 2000–2011, Installation aus 43 Arbeiten von Franz West und seinen Assistenten, Künstlerfreunden und Kollegen, 54. Biennale di Venezia, 2011
Photo: Stefan Altenburger
»Vom Nutzen (Das Nützen)«, Galerie Bärbel Grässlin, Frankfurt a. M. 2010
Photos: Wolfgang Günzel, Offenbach a. M.
1992 entstanden für die Documenta IX die »Diwane«, eine – in unterschiedlichen Konfigurationen – bis heute sehr erfolgreiche Arbeit. Es handelt sich dabei um eine Serie von Dreiersofas, mit der Absicht, die Paarbeziehung 1 plus 1 zu durchbrechen und Platz für den unbequemen Dritten, den Zeugen, den Anderen, den Dazwischenstehenden zu schaffen. Die Diwane, teilweise gepolsterte Metallsofas, über die ein orientalischer Teppich geworfen war, wurden im Innenhof einer ehemaligen Schule installiert, die an manchen Abenden als Vorführraum unter freiem Himmel genutzt wurde. Die Diwane waren eine Kombination aus einer Freudschen Couch, auf die sich der Patient im Verlauf der psychoanalytischen Sitzung legt, um Erinnerungen, Träume und Obsessionen aus sich strömen zu lassen, und einem Ottoman, der zwischen dem 18. Jahrhundert und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in die europäischen Wohnzimmer Einzug hielt, um das Gefühl der trägen, orientalischen Gelassenheit heraufzubeschwören; beinahe so, als wollte man damit den Kritizismus, die intellektuelle und puritanische Skepsis der Aufklärung, ausgleichen.

Saskia Bos hatte in diesem heißen Sommer 1986 viele jener Künstler in Sonsbeek zusammen gebracht, die die 80er Jahre(1) prägten und dank aufmerksamer Kuratoren wie Kasper Koenig und Jan Hoet in den großen Ausstellungen dieses Jahrzehnts gezeigt wurden. Als Denys Zacheropoulos und ich von Jan Hoet gebeten wurden, an der documenta IX mitzuarbeiten, schlugen wir vor, alle diese Künstler einzuladen, obwohl einige von ihnen aus verschiedenen Gründen am Ende nicht teilnehmen konnten. Mitten im Kommerz- und Medien-Boom der trivialsten und aggressivsten Formen des Neoexpressionismus, der damals in der westlichen Welt vorherrschte, war sie die letzte Generation eines okzidentalen Kunstmodells, das sich zwischen der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts und dem beginnenden 14. Jahrhundert (von Giotto bis zu den gotischen Kathedralen) im Zuge der Renaissance der Städte und der Ausbreitung des Handels nach dem langen Winter des Mittelalters langsam entwickelt hatte. Es war ein ebenso fortschrittliches wie expansives Kunstverständnis, das sich ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – parallel zum kolonialen Imperialismus – in allen Gegenden der Welt ausbreitete und die, nicht weniger großartigen Kunstauffassungen der anderen Kulturkreise auslöschen sollte. In den folgenden Entwicklungsphasen wurde unwiderrufbar das Konzept des Individuums als Protagonist seiner eigenen Geschichte entwickelt. Im selben Maß ging es um die werkinhärente Übereinstimmung zwischen Natur und Kultur, die diskontinuierliche Analogie zwischen dem Raum der Kunst und dem des Leben, das Zusammenlaufen von Ethik und Ästhetik in der künstlerischen Praxis, um die absolute Fähigkeit der Kunst, nicht nur zu sehen und darzustellen, sondern auch Maß zu nehmen und die Welt in all ihren Entwicklungen zu kontrollieren. Diese Kunstauffassung befreite sich schließlich von jeglicher ökonomischen, politischen und geistigen Abhängigkeit und wurde– ebenso wie die Religion und die Wissenschaft, jedoch unabhängig von diesen – zu einem Instrument der Erkenntnis und der Bezugnahme zum Leben und zur Welt. Dieses Kunstverständnis wurde durch eine zunehmend gespannte Atmosphäre beschleunigt, die sich schließlich zu einem Ruf nach Befreiung von all den Grenzen und Widersprüchen in der individuellen wie kollektiven Entwicklung steigerte.
Die Generation, von West war die letzte mit einem solchen Kunstverständnis, denn nachdem es Ende der fünfziger Jahre zur international dominanten Position aufgestiegen war, geriet es in die Krise. Es war wie das letzte Aufflackern einer langen historischen Periode, die ihr Ende erreicht hatte: Nach der Emphase der ästhetischen Befreiung folgte eine überschwängliche Begeisterung für alles, was »Aufsehen erregte«, auf den Humanismus folgte der Posthumanismus, auf den Glanz des Erhabenen die Trivialität des Spektakulären. 

Der Verdienst der Generation von West bestand darin, das Werk, das im Zuge der avantgardistischen Aushöhlung verloren gegangen war, wieder in den Mittelpunkt gerückt zu haben. Doch diese wiedererlangte Zentralität implizierte eine Leere, die vom Werk ausgefüllt werden musste, und ihr zugleich Form verlieh. Innerhalb dieser Leere verweilte das Werk in der Spannung des Begehrens – ein namenloses Begehren, um einen Ausdruck von Jean-Francois Lyotard zu gebrauchen –, das die Einsamkeit des Selbst mit der Anerkennung des Anderen vereint, von dem man seinerseits wieder anerkannt und letzten Endes geliebt werden möchte. Der Künstler betont durch sein Werk seine eigene souverän singuläre Position: nicht mehr als elitärer Held und Heilsbringer, sondern als Souverän, der sich der Bedeutung und des Gewichtes dieser Geschichte und ihrer Tradition annimmt, wohlwissend, dass er ihr angehört; auch nicht mehr als Meister, der in der Lage ist Wissen zu übermitteln, sondern als primus inter pares (erster unter Gleichen), der mit seinem Werk mehr setzt als schafft; vielmehr aber noch als Mitglied einer Minderheit, die sich davor hütet Mehrheit zu werden, weil sie über den allen Minderheiten eigenen Humor verfügt, durchsetzt von Melancholie, die jede Gewissheit begleitet. Es geht ihm viel eher darum, in seiner künstlerischen Praxis die Welt zu spüren, als darum, in ihr seinen eigenen Abdruck zu hinterlassen. All dies ist Franz, darum hat er nicht zufällig West zu seinem Künstlernamen erkoren.

Dortmund und Gmünd (Die visualisierte Rhythmik), 1993, Siebdruck von Roland Goeschl, 1994
Photo: Amedeo Benestante, 2010, MADRE, Neapel
Als Sohn eines kleinen Kohlenhändlers und einer jüdischen Zahnärztin, die zu Hause arbeitete, wuchs er im Karl-Marx-Hof auf, einem Gemeindebau, der zwischen 1926 und 1930 im Roten Wien erbaut wurde und mit 1382 Wohnungen, über 5000 Menschen Platz bot. Dort hatte er sein erstes Atelier. Als Schüler von Bruno Gironcoli an der Akademie der bildenden Künste in Wien musste er sich während seiner Ausbildung mit zwei Situationen auseinandersetzen, die zu jener Zeit das Geschehen dominierten: einerseits mit der Wiener Gruppe von Gerhard Rühm und Oswald Wiener, die unter dem Einfluss der Lektüre Ludwig Wittgensteins und begeistert von der Ästhetik und Poetik des Barock, des Dada und des Surrealismus, auf allen Ebenen einen kritischen Skeptizismus gegenüber der zeitgenössischen Kultur entwickelt hatten; andererseits mit dem intensiven und spektakulären Wiener Aktionismus von Hermann Nitsch, Otto Mühl, Günter Brus und Rudolf Schwarzkogler, deren ebenso radikale Suche nach einer kathartischen Wiedergeburt des Individuums und der Gesellschaft, sich in extremen orgiastischen Ritualen und Praktiken manifestierte. Als Teil des proletarischen und kleinbürgerlichen Umfelds des Karl-Marx-Hofes war er einerseits dem intellektuellen Extremismus und Habitus der damals fortschrittlichsten Kulturkreise, aber auch dem allgegenwärtigen Spießbürgertum ausgesetzt. Das war der Ursprung seiner Verwirrungen, mit denen er sich jene »unerträgliche Leichtigkeit des Seins« aneignete, dem seine Kunst und sein Kunstwollen entsprang.

Indem er jede kathartische Wiedergeburt und konstruktive Utopie aufgab, gelangte er dank der gesunden Skepsis einer positiven Intelligenz zu jener zuvor erwähnten souveränen Einzigartigkeit. Doch erreichte er sie auf eigenen Wegen, die seiner Umgebung und letztlich auch seiner Zugehörigkeit Rechnung trugen. West war einer extremen Spannung ausgesetzt, was ihm die nötige Kraft gab, im Unterschied zu vielen anderen, die Grenzen seines Jahrzehnts zu übertreten und auch das darauf folgende, das vom Verlust der Führungsrolle der westlichen Kultur gekennzeichnet war, beinahe unversehrt zu durchschreiten. Und es gelang ihm, voller Energie in ein neues Jahrtausend einzutreten, das keinen Platz für ihn vorgesehen hatte, und er sich mit erhabener Selbstverständlichkeit seinen Platz suchte. Als der breite Fluss der westlichen Kultur schließlich seine Mündung erreichte und in den Ozean der Welt floss, verunreinigte er diesen zwar, und doch blieb der Ozean ein Ozean, und für den Fluss gab es kein Zurück mehr, wie majestätisch er auch gewesen sein mochte. Doch während andere bereits bei der ersten Flut verloren gingen, setzte das Boot von Franz West seine Fahrt gegen den unendlichen Horizont fort. Ein »Erhabenes Gelingen«, wie das chinesische Buch der Wandlungen, I-Ching, sagen würde.


PIER LUIGI TAZZI ist Kunstkritiker und Kurator. Er lebt in Capalle, Toskana, und Korat, Thailand.


Franz West, Echolalie, 2010, Photo: Lukas Schaller

Stefan Ratibor


Ich begegnete Franz West zum ersten Mal vor dreizehn Jahren in seinem Atelier, das er damals in der Annagasse in Wien hatte. Kurz nach unserem ersten Treffen lud Franz mich in New York ein, ihn an die Columbia University zu begleiten, wo wir Ateliers besuchten und er einen Vortrag hielt. Zu Beginn des Vortrags bat er mich aufs Podium, und nach der Begrüßung durch den Fakultätsleiters stellte er mich als seinen Übersetzer vor, eine Aufgabe, auf die ich völlig unvorbereitet war. Er sprach zwanzig Minuten ohne Unterbrechung, begab sich dann ins Publikum und sah mir zu wie ich mich durch eine schlecht zusammengefasste Übersetzung quälte, für die er sich dann sehr bedankte.
Über die Jahre ließ er mich neben anderen Dingen mit Sarah Lucas eine SMS Konversation, seine bevorzugte Kommunikationsart, für ihn erledigen. Oder Auszüge von Büchern, die er während der Arbeit an einer bestimmten Skulpturengruppe las, im Zeitungsformat publizieren; und ihn überhaupt begleiten – für all das werde ich ihm für immer dankbar sein.

Franz West war einer der originellsten Künstler im Nachkriegseuropa, ein außergewöhnlicher Denker und besonders liebenswürdiger Mensch. Sein Einfluss auf jüngere Künstler war außergewöhnlich, genauso wie die Freundschaften mit ihnen wie seinen Altersgenossen. Beide Gruppen waren wichtig für seine Atelierpraxis, seine vielen Ausstellungsbeteiligungen und zahlreichen Kollaborationen. Diese einzigartige Offenheit und Auseinandersetzung mit den Sichtweisen anderer Künstler kann man vielleicht am besten verstehen, wenn man sich an ein von ihm organisiertes Projekt während der Venedig Biennale 2007 erinnert – »The Hamster Wheel«. Es war nicht Teil der Biennale, wo er mit einer großen Arbeit im Arsenale vertreten war, aber verlockend nahe davon – auf der anderen Uferseite an dem Fondamente Nuovissima. Franz hatte einfach ein Gebäude gemietet und seine Künstlerfreunde eingeladen, an diesem unkuratierten Künstler-Projekt mitzumachen.

Die Dialoge, die er mit anderen führte – von Schriftstellern über Philosophen, Designer, Musiker und Tänzer – stehen für seinen intellektuellen Weitblick. Diese Kollaborationen beeinflussten seine außergewöhnliche skulpturale Arbeit. Seine Collagen, Möbel und Texte machten ihn zu einem ungewöhnlichen Allround-Künstler und den wahren Renaissancemenschen, der er war. Nur Wien konnte so einen Künstler hervorbringen: ein Erbe der Wiener Werkstätte und des Jugendstils, ein Anhänger von Freud und Wittgenstein, ein Beobachter des Aktionismus und das Produkt der vielen politischen und sozialen Strömungen im Wien der Nachkriegszeit. Und dennoch war er nie nostalgisch oder sentimental, sondern immer völlig zeitgemäß und neugierig.
Franz war durchwegs bescheiden und genügsam. Ich werde sein Lachen und seinen Humor vermissen, seine unvergleichlichen Textnachrichten und Witze, seine entschiedene Liebenswürdigkeit und künstlerische Integrität.

In diesem Sommer fühlt sich Wien weit weniger originell und sprühend, und fast freudlos an.


STEFAN RATIBOR ist Direktor von Gagosian London.


 
Room in Rome, 2010
Piazza di Pietra, Rom, Photo: Matteo Piazza (Courtesy Gagosian Gallery)
»Furniture«, Gagosian Gallery Athen 2011
Photo: Costas Picadas
Gekröse, 2011, Art Basel Unlimited, 2012
Courtesy Galerie Meyer Kainer, Photo: Stefan Altenburger