Hans-Peter Feldmann
Bawag Contemporary, Wien 21.6.–26.8.2012

© O.O.; VBK Wien
DIE ZUFÄLLIGKEITEN DES ALLTAGS
Mr. Morton ist der ehrgeizige Erbauer der Eisenbahnlinie. Über seinem Schreibtisch hängt ein Bild des Pazifiks. Ab und an, wenn seine Sinne schweifen oder schwinden, beginnen die blauen Wellen dieser Malerei vor seinen Augen zu wogen. Morton wird das Meer nicht sehen, die Cheyenne haben den Zug und ihn überfallen. Am Ende von »Spiel mir das Lied vom Tod« liegt er sterbend mit dem Gesicht in einer Wasserpfütze und wähnt sich im Pazifik, umspült von der Illusion seines sehnsuchtsgetränkten Bildes.
Sechzehn solcher Meeresbilder, gehängt als ovales Cluster, empfangen den Besucher in der Bawag Contemporary. Sie gleichen einander durch die üppigen Rahmen und die fahle Stilistik, in der seifige Gischt und brandende Wogen große Gefühle wecken wollen, und sind dennoch verschieden. Hans-Peter Feldmann hat sie zusammengetragen, er ist ein Sammler und: ebenfalls Selektor. Er kompiliert Bilder, Bucher, Spielzeug und handliche Gegenstände, die sich zu irritierend simplen Enzyklopädien sammeln. Anfangs stellt der 1941 in Düsseldorf geborene Künstler gefundene Bilder in kleinen Booklets zusammen. Motivgleiche Schwarz-Weiß-Bilder werden zu konzeptuellen Breviers zusammengefügt, ohne Kommentar, Untertitel und ohne den Versuch, sie zu deuten: Zehn Segelboote, sieben Werkzeuge, die Beine von Frauen, ein Vulkan, …. Nicht um die Kreation von Bildern geht es hier, nicht einmal um ihre Kombination oder Kritik, allein um die Zufälligkeiten des Alltags und deren unsentimentale Verzeichnung. Über die Vereinfachung werden die Mechanismen der Reproduktion deutlich, noch mehr aber die faszinierend peinlichen (Ab-)gründe unseres Geschmacks.


© O.O.; VBK Wien
Doch diese Sammlung des Kollektiven kann auch eine politische Dimension annehmen, zum Beispiel wenn Feldmann 151 Titelseiten von Zeitungen aus aller Welt vom Tag nach dem Anschlag auf die Zwillingstürme in New York ausstellt. Zu sehen im Original in der Sammlung des K21 in Düsseldorf und in farbiger Xerokopie in der Ausstellung »Bild-Gegen-Bild« im Münchner Haus der Kunst. Der Verlust der Originalität, die Kopierfähigkeit der Information, ist dabei Programm. Feldmanns Umgang mit den bildnerischen Zeugnissen bleibt dabei stets lapidar. Es ist die Gleichschaltung der Bilder, die ohne Zurechtmachung auskommt, die diese Zusammenstellungen so interessant macht. Sie werfen gleichsam den Blick zurück, als wäre der eigene Geschmack vergegenständlicht, als wären die eigenen Sehnsüchte verdichtet. Dass dieses Begehren letztlich konventionell ist, muss eingestanden werden.
THOMAS D. TRUMMER

Courtesy 303 Gallery, New York

© O.O.; VBK Wien
Slavs and Tatars »Beyonsense«
MoMA Projects Gallery, New York, 15.8.–10.12.2012

Ich stehe vor einer großen gestickten Karte von Alighiero Boetti im zweiten Stock des MoMA und suche den Projektraum, in dem Slavs and Tatars’ erste Einzelausstellung, »Beyonsense«, in den USA eröffnet. Am Weg komme ich an Jeff Koons’ »Three Ball 50/50 Tank (Two Dr. J Silver Series, One Wilson Supershot), 1985, vorbei. Ich umkreise gaffend das Aquarium und denke wahrscheinlich das erste Mal ernsthaft über Jeff Koons nach. Dann laufe ich durch eine große Installation von 131 Toshiba-Monitoren, Dieter Roths »Solo Scenes« (1997–98). Es erinnert mich an die Rolle William Baldwins mit seiner perversen Videoüberwachungsanlage im paranoiden Erotikthriller »Sliver«. Roth richtet die Kamera in einer Art traurigem Auto-Voyeurismus auf sich selbst, aber wie man im Trailer von »Sliver« hört: »Der Blick von außen ist nichts gegen den Blick von innen«. Schließlich erreiche ich die Installation von Slavs and Tatars und treffe auf einige Kuriositäten in Sockelvitrinen. In einer stehen fünf, mit einem Dolch diagonal durchstoßene Bücher. In einer anderen ein Turban aus Getreideähren und in der dritten eine aus Holz geschnitzte Horngurke mit dem Satz »the dear for the dear« in schwarzer Tinte.
Ich sah die Arbeit von Slavs and Tatars, einem Kollektiv von Künstlern, die in Eurasien leben, es bereisen und dessen Kulturen erforschen, das erste Mal, als sie das Buch »Kidnapping Mountains« (2009) und eine Auswahl ihrer außergewöhnlichen Drucksachen bei Ooga Booga in Los Angeles präsentierten. Die große Skulptur »PrayWay« (mit ihren blauen Neonröhren) war für mich eines der Highlights der heurigen Triennale »The Ungovernables« im New Museum. Immer neugierig auf mir unbekannte Länder und Kulturen war ich voller Erwartung auf die nächste Möglichkeit, in den modischen Multikulturalismus des Kollektivs einzutauchen. Beim Durchblättern eines ihre Bücher im »Beyonsense«-Leseraum stolperte ich über ein Malayisches Sprichwort: »Fremde sind keine Menschen, sondern Götter ohne Platz im Himmel«. Wie ein Fremder bewege ich mich durch einen Raumteiler aus Teppichen, die von der Decke zum Boden hängen, hinein in die mystische, schwach beleuchtete Installation von Slavs and Tatars. Hinter den Teppichen entdecke ich einen kleinen Brunnen, der eine blutrote Flüssigkeit auf eine weiß geflieste Plattform spritzt. Ein Ring aus Armen mit sich verschränkenden Händen und Buchstaben aus drei verschiedenen Schriftensystemen sind in schwarz auf die Fliesen gemalt. Gelbgrüne, in Pyramidenform über den Brunnen gehängte Leuchtstoffröhren glühen im Raum. Sie sind von einer Arbeit Dan Flavins inspiriert, die er für eine Moschee in New York gemacht hatte. Unter den gepolsterten Sitzbänken, die an zwei Wänden der Installation entlang laufen, sind lavendelfarbene Leuchtröhren montiert. Auf den schön gemusterten Bänken steht eine Auswahl der Künstlerbücher des Kollektivs, die einem ihre linguistischen und kulturellen Verbindungen näher bringen.
Ich bleibe eine Zeit im Leseraum und betrachte den großformatigen, mit den Worten »Mother Tongues & Father Throats« bemalten Spiegel. Er lehnt neben einem zweiten Spiegel an der Wand, der einen großen offenen pinken Mund zeigt. Später frage ich einen Freund, was er für die Beweggründe der Künstler hält. »Politisch«, sagt er. Doch die Arbeit von Slavs and Tatars ist zu kühl-intellektuell und präzise ausgeführt, als dass sie eine starke Reaktion hervorrufen könnte. Ihre Arbeit ist attraktiv, genau weil sie nicht konzeptuell oder theoretisch fordernd ist. Ihr graphisches und ästhetisches Set an Referenzen und Symbolen bleibt mit oder ohne Vertiefung in die Geschichte Eurasiens fesselnd.
JON LEON
Aus dem Amerikanischen von Roland Bartl

Photo: Courtesy of the artists

Silbergelatineabzug, 51 x 77 cm
Courtesy of Stevenson, Cape Town and Johannesburg (c) Zanele Muholi
Am 20. April 2012 wurde in die Wohnung der südafrikanischen Künstlerin und Aktivistin Zanele Muholi (*1972) eingebrochen. Was wie ein normaler Einbruch aussah, war mit großer Wahrscheinlichkeit eine gezielte Aktion zur Vernichtung von Dokumenten. Denn primär verschwanden über 20 Festplatten, vier Jahre Arbeit, Files und Filme, mit denen Muholi das Leben und die Gewalt gegen LGTBI (Lesbian, Gay, Transgender, Bisexual, Intersex) dokumentierte und sichtbar machen wollte.
Das umfangreiche und nicht »unschuldige« Material war für eine Ausstellung im Juli in der südafrikanischen Stevenson Gallery in Kapstadt vorgesehen, daraus wurde jetzt aber nichts. Muholi musste die Ausstellung neu ausrichten beziehungsweise mit dem übrig gebliebenen Material realisieren. Herausgekommen ist eine skizzenhafte Show, die anhand verschiedener Medien und Herangehensweisen das (bedrohte) Leben von LGTBI öffentlich macht. Im Zentrum stehen dabei die »hate crimes« (Hassverbrechen), insbesondere die »corrective rapes« oder »korrigierenden Vergewaltigungen«, von denen in Südafrika noch immer viele denken, dass sie Lesben zu Heteros umwandeln – und gegen die der Staat nicht genug unternimmt. So hängt auf der ersten Wand der Ausstellung eine Liste, mit der an über zwanzig solcher Hassmorde erinnert wird. Viele dieser Gewalttaten hatte Muholi eingehend dokumentiert, und genau darauf schienen es die Einbrecher abgesehen zu haben. Rund um die Liste steckt die Künstlerin mittels Plakaten, Fotos und Filmen das Thema ab, wobei einiges in der Umsetzung unausgegoren und zu skizzenhaft bleibt. Der Film »@24« (2012) dokumentiert die Beerdigungen der beiden 24-jährigen Mordopfer Thapelo Makutle und Noxolo Nogwaza. Dazu sitzt man in einem Raum, der wie ein traditioneller Trauerraum aus den Townships eingerichtet ist. Das könnte leicht sentimental werden, ist aber primär eine minimale Kontextualisierung harter Fakten, als ginge es darum, den Film nicht dem Pathos oder der Gleichgültigkeit des White Cube zu überlassen. Der Mut, die Strenge und die Disziplin, mit der Muholi ihren Kampf austrägt und die ihre besten Arbeiten auch formal prägen, werden dann vor allem im dritten Raum sichtbar. Dort hängen etwa hundert schwarzweiße Porträts von bekennenden schwarzen Lesben, die für Muholi aufrecht und mit direktem Blick in die Kamera posieren – und damit ihr Leben riskieren. Jede der Porträtierten musste unterschreiben, dass sie mit Aufnahme und Veröffentlichung einverstanden ist, denn diese Porträts können sie zu Zielscheiben von »korrigierenden Vergewaltigungen« und weitreichender Diskriminierung machen.




C-Prints, 33 x 50 cm
Courtesy of Stevenson, Cape Town and Johannesburg
(c) Zanele Muholi, Photo: Antoine Tempé
Vor jungen Leuten stehend sagt Muholi in diesem Film dann scheinbar überraschend: »Schönheit ist alles, was ich sehen will«. Aber genau dieses Sehen und Gesehen Werden, auf dem Schönheit ja immer aufbaut, steht im Zentrum ihrer Arbeit und ist ein politischer Akt: Muholi betreibt formstrenge Sichtbarkeit als Dissidenz, Aufklärung und Hoffnung. Denn Sehen und Gesehen Werden sind seit jeher Kernaufgabe der Kunst, und genau deshalb verbinden sich bei Muholi politischer Aktivismus und Kunst mit seltener Überzeugungskraft. Dazu gehört dann auch, dass gegenüber von »Difficult Love« ein kleiner Flatscreen hängt, auf dem wie beiläufig ein knapp vierminütiger Lesbenporno läuft, ein Sexakt in Nahaufnahme von sich bewegenden Körpern und Fingern, gefilmt von Muholi. Eine Kollegin sagte, dass hier Filmemacherin und Cutterin zu sehr der Erotik erlegen seien. Sie hatte nicht unrecht, aber die Unverfrorenheit, mit der engagierter Dokfilm und DIY-Sexfilm zusammenkommen, ist schon gut unverfroren verstörend.
DANIEL BAUMANN

Perlen, Klebstoff, Holztafel
117 x 77 cm

23 x 15 cm