JK

Die große Tour

No. 13 / Herbst 2007

Rumänische Pavillon, Victor Man
Yin und Yang
Francesco Stocchi über die 52. Biennale von Venedig

Die 52. Biennale von Venedig ist eine Zeitmaschine, die weder auf Zukunft eingestellt ist, also keine Visionen für mögliche künstlerische Entwicklungen zeigt, noch auf Gegenwart, wie es der Titel nahelegt. Bei einer so komplexen Ausstellung mit über drei Jahren Vorbereitungszeit führt der Versuch, die Gegenwart, also einen Übergangszustand, festhalten zu wollen, gewöhnlich ohnehin dazu, dass man ihr hinterherläuft, was unvermeidlich eine Glorifizierung der Vergangenheit nach sich zieht. 
Die von Robert Storr, einem der angesehensten Kuratoren unserer Zeit, konzipierten Ausstellungen im Arsenale und in den Giardini sind zweifellos perfekt ausgeführt. Auf den ersten Blick funktioniert hier alles, vom Großen bis ins Kleinste, vom kritischen Rahmen bis zu einem Display, bei dem sogar die Beschriftungstäfelchen gut aussehen. Eine Ausstellung, in die jeder Professor seine Studenten führen sollte, ein akademisches Musterbeispiel. Storr vermeidet völlig legitim jegliche Polemik und jegliches Spektakel, allerdings in einem solchen Ausmaß, dass alles zu sicher, zu geschützt, wie unter einem Glassturz erscheint. Das Problem ist, dass diese Biennale in ihrer Konzeption genauso vor zehn Jahren hätte stattfinden können – oder in fünf Jahren stattfinden könnte, und zwar ohne substanzielle Unterschiede. Leider lassen aber die Rhythmen, die unsere Zeit uns auferlegt, einen derartigen Mangel an Aktualität nicht zu.
Jede Biennale scheint aufs Neue die Frage nach ihrer Rolle aufzuwerfen, und jeder Leiter wird dem beliebten saisonalen Kritik-Ritual unterzogen, ähnlich wie der Trainer einer Nationalelf bei einer Fußball-WM. Die aktuelle Biennale steht vom Ansatz her jener Francesco Bonamis aus dem Jahr 2003 diametral gegenüber. Bonami unternahm den Versuch, sich in mögliche Entwicklungen dieser turbulenten Jahre hineinzudenken. Dabei ist er zwar mitunter tragisch gescheitert, vielleicht aber war diese Konfiguration genau das Ziel oder wenigstens ein Teilziel seines Konzepts. Die Zeit brachte die Antworten. Schien Bonamis Biennale ein großes, chaotisches Work-in-Progress gewesen zu sein, so ist die von Storr geschlossener, glatter, ähnlich einem Sonntagvormittagsspaziergang durch die ausgedehnten Korridore einer IKEA-Filiale: schöne Formen, sauber verpackt, jedes Detail sorgfältig geprüft und jederzeit und überall reproduzierbar.
Aufgrund ihrer Geschichte und ihres Charmes zieht die Biennale von Venedig von Mal zu Mal größere Aufmerksamkeit auf sich. Die diesjährige mit 76 Länderpavillons und zahllosen Nebenprojekten ist die meistbesuchte bisher. Die Nebenschauplätze erweisen sich dann auch als die interessantesten Orte, wo ein Gefühl für den Augenblick zum Ausdruck kommt. Etwa in der kontrollierten Anarchie von Formen, Farben und Gefühlen in der von Franz West konzipierten »Hamsterwheel«-Ausstellung. Der Erfolg der Nebenprojekte unterstreicht die Differenz von Zentrum und Peripherie und die Aufgeblasenheit des Begriffs »offiziell«.
In den Giardini prallen Yin und Yang zusammen, ein Gegensatz, der selten so klar zutage tritt: ein Land gegen den Rest der Welt. Bekennt sich Storr explizit zum amerikanischen Modell, indem er im italienischen Pavillon einen persönlichen, wenngleich schwer zugänglichen historischen Weg nachzeichnet (mit einer großen Anzahl amerikanischer Meister, darunter auch Storrs eigener Auffassung fern stehende Konzeptualisten und Minimalisten), so boten die in den Länderpavillons präsentierten Künstler (die sichtlich für sich selbst auftraten und nicht für die Länder, die sie repräsentierten) auf unterschiedliche Weise ein ungewöhnlich kohärentes Bild. Die Allgegenwart von Zerstörung und Tod scheint eine obligatorische Reaktion auf die gegenwärtige geopolitische Situation zu sein. Zu meinen persönlichen Highlights gehören der rumänische, der niederländische und der nordische Pavillon. Einem weiteren interessanten Kohärenzphänomen begegnet man auch im Arsenale, wo die politische Situation als zentrales Thema vorherrscht, was allerdings am Titel »Think with the Senses, Feel with the Mind: Art in the Present Tense« vorbeigeht. Was der mit den Arbeiten im Arsenale zu tun hat (auf die Moderne im italienischen Pavillon trifft er schon eher zu), bleibt ebenso unverständlich wie der Umstand, dass die Idee, einen afrikanischen Pavillon einzurichten, zur Präsentation einer (suspekten) Privatsammlung wurde, die mit Basquiat, DJ Spooky, Alfredo Jaar oder Warhol Künstler aufbietet, die wenig mit Afrika zu tun haben, bestenfalls mit Afro-Amerika, was nicht das gleiche ist.
Bei einer der vielen öffentlichen Konferenzen soll Robert Storr gesagt haben: »Es ist schwer, in einer so unruhigen Zeit Kunst zu machen.« Dabei haben sich harte Zeiten häufig als äußerst fruchtbar erwiesen (und was soll dann die beste Zeit zum Kunstmachen sein?). Und man kann ergänzen, dass es offensichtlich auch schwer ist, Kunst zu zeigen, wenn man diese Instabilität oder »Unruhe« nicht schätzt und keine Risiken eingeht, und man Experiment und Scheitern nicht als Aspekte eines offenen, lebendigen Suchens betrachtet. Wenn nämlich die Hülle des Konzepts undurchlässig ist, kann das Ergebnis schon einmal durch die Eleganz der Formen und politischen Korrektheit erstickt werden. Die Gewohnheit, Zuflucht zu jüngeren Künstlern zu nehmen, hat mich eigentlich noch nie überzeugt, aber ein so eklatanter Mangel an ihnen ist sogar noch besorgniserregender.
Meiner Ansicht nach sollte die Biennale nicht als glanzvolle Krönung einer Karriere aufgefasst werden, als Chance, seine eigene Geschichte zu erzählen, sondern als Versuch, seine auf einen bestimmten historischen Zeitpunkt angewandte persönliche Vision darzustellen. Während sich Ersteres höchstens in der persönlichen Biografie niederschlägt, kann Letzteres, wenn es gelingt, Diskussionen in Gang setzen, die einen produktiven Widerhall in der Zeit finden.

FRANCESCO STOCCHI ist Kurator und Autor und lebt in Rom
Italienischer Pavillon, Nancy Spero
Niederländischer Pavillon, Aernout Mik
Österreichische Pavillon, Hamsterwheel
Nordischer Pavillon