JK

Artist's Readings

No. 13 / Herbst 2007

LIAM GILLICK
Louis Althusser, »How to Read Marx’s Capital«*

 

Die Arbeit Liam Gillicks steht in einer engen Wechselwirkung mit Kritik und Theorie: in den Strategien, die seiner Kunst selbst zugrunde liegen, aber auch in den vielen kunstkritischen Texten, die der britische Künstler verfasste. Grundlegendes Thema ist dabei immer wieder die Moderne mit ihren gesellschaftstheoretischen Entwürfen und realen Auswirkungen auf Gesellschaft und Produktionsbedingungen. LIAM GILLICK in einer E-Mail-Konversation mit CHRISTIAN KOBALD.
 



8. […] Ich gebe also folgenden Ratschlag: Zunächst den ganzen ersten Abschnitt aussparen und die Lektüre mit dem zweiten Abschnitt anfangen: »Die Verwandlung von Geld in Kapital«. Man kann meines Erachtens den ersten Abschnitt erst anfangen (und auch nur anfangen) zu verstehen, nachdem man den ganzen ersten Band vom II. Abschnitt an wieder und wieder gelesen hat.

9. Dieser Ratschlag ist mehr als ein Ratschlag: Es ist eine Empfehlung, die ich für imperativ halte. Jeder kann selbst den praktischen Versuch damit machen.
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Christian Kobald: Wann wurde Althusser wichtig für dich?


Liam Gillick: Über Alhusser wurde am Goldsmiths College in den 80ern sehr 
viel diskutiert. Das scheint heute erstaunlich, aber zu der Zeit gab es eine ganze Reihe von Seminaren über ihn, aber auch über S. J. Perelman, den New Yorker-Humoristen und Drehbuchautor der Marx Brothers. Ich denke, es war diese Mischung von Althusser (Karl Marx) und Perelman (Marx Brothers), die die Eigenart des Diskurses an der Universität damals erklärt. 

Die Marx Brothers zeigten einen Sinn für Anarchie, der in der Kommunistischen Partei oder den Gewerkschaften vollständig fehlte. Hast du dich bei einer Partei oder einer Gewerkschaft engagiert oder bei irgendeiner anderen Art von politischem Aktivismus?

Ich war kurz Vorsitzender der Studentengewerkschaft, aber sie war eine sterbende Gewerkschaft, also passierte nicht viel. Während einer Demonstration gegen Stipendienkürzungen wurde ich vom Podium geworfen. Einem jungen Proto-Blairianer vom Zentralkomitee gefiel nicht, dass ich gefragt hatte, warum wir zu einem Park am Ende der Welt in South London marschiert wären, statt in Richtung Unterrichtsministerium, oder einfach irgendwo anders hin. Er flüsterte mir »Trotzkist« ins Ohr. Ich wusste nicht, ob ich ihn küssen oder schlagen sollte. Stattdessen steckte ich einfach mehr Energie in meine Kunst und festigte mein Interesse daran, die Systeme von innen zu verändern. Ein Hauptanziehungspunkt für viele war damals die Workers Revolutionary Party, die sehr aktiv Zeitungen verkaufte und Arbeit auf der Straße machte, im Sartrestil. Mich hat das nicht interessiert. Ich war an der Kampagne für atomare Abrüstung als Organisator beteiligt, ich verbrachte sehr viel Zeit im Women’s Peace Camp in Greenham Common und habe dort meine Hilfe angeboten. Das war eine wichtige Zeit. Sie verkörperte definitiv die allerbeste Kombination der »zwei Marx«-Positionen. Viel Spielerisches, Durcheinander und Spott über starre Systeme.

Hast du Althussers Empfehlung, wie Marx zu lesen sei, befolgt?

Absolut. Es ist eine klar geschriebene Anleitung ein Buch zu lesen. Sie bleibt ein Schlüssel zum »Kapital«. Die Tatsache, dass er freundlich über Intellektuelle oder jene spricht, die »die notwendige Anstrengung gemacht haben, ›den Standpunkt der Arbeiterklasse‹ einzunehmen«, bestärkte mich natürlich darin, dass ein intellektuelles Arbeiten einen Wert innerhalb der Kultur haben kann. Man kann mit Althussers Anleitung argumentieren, sie zeigt einen Sinn für Pädagogik und den Wunsch, einen Text mit anderen zu teilen. Es ist extrem nützlich und interessant, dass ein komplizierter Theoretiker etwas in der Art macht.

Hast du damals am gesellschaftlichen Wert künstlerischer Arbeit gezweifelt?

Ja, und ich habe meine Meinung auch nicht geändert. Für die Kunst ist es entscheidend, eine kritische Funktion in der Gesellschaft zu haben, deshalb ist alles in Frage zu stellen, besonders die Relevanz und das Potenzial der zeitgenössischen Kunst. Man muss auch bedenken, dass ein skeptischer, lektürebezogener Kontext wie der in Großbritannien immer schon misstrauisch gegenüber dem Potenzial künstlerischer und kritischer Praxis war. Das ist ein anderer Widerstand als in anderen europäischen Kulturen. Ich interessierte mich dafür, ob es möglich wäre, Aspekte bestimmter kritischer Praktiken, von denen uns gesagt worden war, dass sie gescheitert wären, wieder aktivieren zu können. Althussers Text schien ein guter Weg, um damit zu beginnen.

Welche Praktiken hast du zu reaktivieren versucht?
Das Potenzial des angewandten Modernismus. Den Raum zwischen der Bahn des Modernismus und dem unerbittlichen Gang der Modernität zu besetzen. Den Begriff der Kommune oder der Gruppe als ein gültiges Arbeitsmodell. Diskursive Modelle einzubeziehen. Es zeigt sich nichts davon direkt in den Arbeiten, sondern operiert parallel dazu.


Für mich haben Althussers Texte etwas zugleich Verzweifeltes und Herablassendes. Anders ist es bei Pierre Bourdieu. Hat er eine Bedeutung für dich?


Absolut. Meine Arbeit kann auf jeden Fall im Licht seiner Arbeiten über symbolisches und kulturelles Kapital verstanden werden. Ich verwende sehr viel von seiner Terminologie bei dem Versuch, in unterschiedlichen Feldern zu agieren. Im Augenblick habe ich gerade ein Lineal für ein neues Museum der Arbeit und Industrie in Spanien entworfen, einen »brise-soleil« für ein stillgelegtes Parkhaus in Schweden und eine Arbeit für den Garten eines reichen belgischen Sammlers. Um diese Dinge zu machen und mich gleichzeitig an einer Freien Schule in Berlin (unitednationsplaza) zu beteiligen, muss ich mir seiner Begriffe der Reflexivität und des Engagements bewusst sein, innerhalb dessen, was man immer noch als die soziologische Sphäre der Praxis bezeichnen kann. Ich versuche, die herrschende Kultur nicht auf etwas aufmerksam zu machen, was sie schon weiß. Ich bin an der Rolle des Künstlers als Mittler innerhalb der Gesellschaft interessiert.

Ich habe Bourdieu vor allem wegen seiner Art, Fragen der Solidarität und des Schreibens zu verbinden2, erwähnt. Auch William Empsons Essay »Proletarian Literature« fällt mir in dem Zusammenhang ein.3 Ich glaube, es ist wichtig, das Verhältnis von Kunst und Solidarität neu zu denken, wenn man die zeitgenössischen Implikationen von Althussers Regel Nr. 39herauszuarbeiten versucht. Stimmst du da zu?

Bis zu einem gewissen Grad tue ich das. Und das erklärt, warum es verschiedene Zugänge zu meiner Arbeit gibt. Ich wurde zu Recht über die formalen und ästhetischen Eigenschaften einiger meiner »Structures« befragt, und die Weise, wie sie nicht mit der Rhetorik der Praxis zusammenzugehen scheinen. Aber man muss bedenken, dass ich mich zu einer Kunst bekenne, die als Köder oder als Weg zu anderen Ideen fungieren kann. Natürlich bedeutet das auch, dass es alternative Zugänge für Menschen gibt, die sich weniger für ihre materielle Ausformung interessieren. Ich wuchs in einem im Wesentlichen autodidaktischen Haushalt auf. Ich war z. B. der erste in meiner Familie, der studiert hat. Das ist eine häufige Nachkriegserfahrung, und diese Verschiebung der arbeitenden Klassen in ein gebildetes Umfeld schuf Spannungen zwischen den Generationen, erzeugte aber auch neue Möglichkeiten für verbesserte Modelle der Kommunikation. Meine Arbeit basiert auf der Tatsache, dass Menschen intelligente, fühlende Wesen sind, ungeachtet ihrer Klasse. Allerdings bin ich mir bewusst, dass Klassenbewusstsein in seiner heutigen Form ein komplexer und implodierter Begriff ist. Heute muss ein Künstler vielfältige Formen des Engagements auf mehreren Ebenen finden, sonst erzeugt er bloß eine parodierte Form nicht mehr aktueller Beziehungen statt nützlicher Dialoge zwischen den Menschen und der Kunst und der Kunst und den Menschen.

Wie würdest du die Funktion des Visuellen in deinen Arbeiten definieren?

Ich habe mich immer für die Semiotik des Gebauten interessiert. Es gibt einen starken Aspekt in den visuellen Eigenschaften meiner Arbeit, der sie mit früheren Konzepten des angewandten Modernismus verbindet. Die Bezugspunkte in der Arbeit sind nicht »Design« oder »Architektur«, sondern die Details und Strukturen, die man bei der Erneuerung und Revitalisierung von dysfunktionalen sozialen Räumen verwendet. Es gibt hier eine starke Verbindung zu der alten Idee einer formalen Sprache, die in ihrem Wesen egalitär ist und durch Kulturen und Sprachen hindurch verstanden werden kann, unabhängig von der Notwendigkeit, einen »Text« zu tragen. Das scheint eine etwas naive Erklärung zu sein, aber es ist der Kern der visuellen Eigenschaften meiner Arbeiten. In einer stratifizierten Kultur wie der angelsächsischen gibt es ein starkes Verlangen, die Disziplinen zu trennen, in dem Ausmaß, dass es keine fundierte Geschichte einer direkten Auseinandersetzung zwischen Konzepten der Avantgarde-Praxis und des dazugehörigen kritischen Rahmens gibt. Nun hat das historisch betrachtet gewisse Möglichkeiten geboten, was das Entstehen spontaner sozialer Gruppierungen betrifft, die ohne ernsthafte kritische Unterstützung oder Reflexion hervortreten können. Aber langfristig entsteht ein Mangel in der Kultur, der sich mit anderen kulturellen Faktoren in einer sanften Verschwörung verbindet, um soziale Unterschiede so zu bewahren, dass die vorherrschende Kultur (oft eine Liebhaberkultur im altmodischen und patriarchalischen Sinn) unbeeinflusst vom kritischen Potenzial der Kunst fortbestehen kann. Der Kultur fehlt es aufgrund der Tatsache, dass es keine 19.-Jahrhundert-Philosophie nationaler Identität gab, von der man hätte ausgehen können, an DNA. Also wird von Kunst erwartet, dass sie idiosynkratisch, super-selbst-bewusst und ironisch bleibt, oder das Resultat ehrlicher, harter Arbeit ist. In mancher Hinsicht ruft meine Kombination von Text, Analyse und kontingenten Objekten eine allergische Reaktion hervor. Sie kann nicht ignoriert werden, aber sie bietet uns keine Lösung in der Reflexion über das Scheitern der Kunst in einem akritischen Umfeld. Natürlich entwickelt das Werk innerhalb eines stärker verwurzelten kritischen Bezugssystems neue Schwächen, aber diese Momente des Scheiterns sind stimmiger und machen mehr Sinn.

Welche Art von Kunst reflektiert deiner Meinung nach die Komplexität unserer Situation? 

Auf diese Frage gibt es keine einfache Antwort. Da geht es nicht nur um das Betrachten von Kunst, sondern um das Mitbedenken der gesamten Matrix kritischer Bezüge im Kunstkontext. Daher müssen wir uns verschiedene Ideen-Produzenten ansehen, wie sie temporär zusammenkommen, sich auflösen und sich in anderen Konstellationen neu formieren. Die wichtigste Kunst unserer Zeit ist immer das Produkt einer mutierenden kontextuellen Struktur. Es gibt eine starke Spannung in der Kultur zwischen denen, die bestimmte kreative Praktiken isolieren wollen, und jenen, die akzeptieren, dass sich Bedeutungen und Potenziale an den Schnittpunkten von kulturell Handelnden entwickeln, und nicht notwendigerweise am Schnittpunkt mit dem »Kunstwerk« selbst. Es ist nötig, neue Koalitionen der Kunst zwischen den Generationen und zwischen Praktiken zu bilden, um ein Interesse für die Kunst zu schaffen oder zu bewahren. Keine individuelle Bricolage-Struktur kann die Kraft kollektiven Handelns ersetzen.    

www.generation-online.org/p/fpalthusser11.htm











CHRISTIAN KOBALD ist Künstler und lebt in Wien.


LIAM GILLICK *1964 in Aylesbury, Großbritannien. Seit 1989 zahlreiche Einzelausstellungen, darunter Literally, The Museum of Modern Art, New York, 2003; The Wood Way, Whitechapel Gallery, London, 2002; A short text on the possibility of creating an economy of equivalence, Palais de Tokyo, 2005; Edgar Schmitz, ICA, London, 2005; Ausstellungsbeteiligungen u. a. Singular Forms, Guggenheim Museum, 2004; 50. Biennale von Venedig, 2003; What If, Moderna Museet, Stockholm, 2000; documenta X, 1997. Seit 1995 veröffentlichte er Texte, die parallel zu seiner künstlerischen Arbeit zu verstehen sind, darunter Literally No Place (Book Works, London, 2002); Five or Six (Lukas & Sternberg, New York, 1999); Discussion Island/Big Conference Centre (Kunstverein Ludwigsburg und Orchard Gallery, Derry, 1997), Erasmus is Late (Book Works, London, 1995), Underground (Fragments of Future Histories), (Les maitres des formes, Brüssel und les presses du reel, Dijon, 2004) und Proxemics (Selected writing 1988-2006), JRP-Ringier, 2007. Daneben veröffentlichte Gillick zahlreiche Beiträge in Kunstmagazinen wie Parkett, Frieze, Art Monthly und Artforum. Er lebt in London und New York.