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Artist's Favourites

No. 28 / Sommer 2011

Von Pierre Bismuth


Pierre Bismuth erforscht in seinen Arbeiten die Produktion und vielfältigen Erscheinungsformen von Wissen und Kultur. In einem ständigen Prozess der Übersetzung bewegt er sich von einer Form zur anderen, von einer Logik zur anderen, als wäre er auf der Suche nach einer verborgenen Bedeutung. Seine Umformungen wollen eine neue, parallele Wirklichkeit schaffen – nicht um eine Antwort zu geben, sondern um eine neue Frage zu stellen. Bismuths Arbeiten sind Metaphern menschlichen Handelns, die sich so weit ausbreiten, bis sie die Logik und Energie ihres ursprünglichen Systems verunreinigt und vollständig ausgezehrt haben. In dieser scheinbaren Ziel- und Hoffnungslosigkeit findet Bismuth die Möglichkeiten für einen tatsächlichen Wandel und formuliert letzten Endes ein Versprechen: Mögen menschliches Handeln und Kreativität auch noch so reglementiert und eingeschränkt sein, Freiheit lässt sich in jedem geschlossenen System finden. *1963 in Paris, lebt in Brüssel
 

Dawn Mellor, Hillary Clinton, 2007
Courtesy Team Gallery und die Künstlerin

Dawn Mellor


Ich halte sie für eine sehr ungewöhnliche Künstlerin, obwohl sie scheinbar ganz traditionell Bilder malt. So etwas dürfte mich ja eigentlich nicht interessieren, aber ihre Arbeiten sind dermaßen brutal und infantil, dass ich sie aufregend und befreiend finde. Sie eignet sich Bilder von Prominenten an und setzt diese extremen und grausamen Bestrafungen aus. Als wäre die kapitalistische, von den Medien verbreitete Lüge von Ruhm, Erfolg, Fortschritt und Glück plötzlich angefault und zersetzte ihre berühmten Ikonen. Als hätte Dorian Grays Porträt nicht die böse Seite eines Einzelnen, sondern die Grausamkeit und Unmenschlichkeit eines ganzen Systems aufgesogen. »Das Bildnis des Dorian Gray« verortet Moral auf der Ebene individuellen Bewusstseins; in Dawn Mellors Arbeiten ist Schuld kollektiv, und ihre Bilder saugen die Giftigkeit des Spektakels auf. *1970 in Manchester, lebt in London

Renzo Martens, Episode 3, 2008
Courtesy der Künstler und Galerie Fons Walters

Renzo Martens


Von Renzo stammt wahrscheinlich eine der kontroversiellsten Arbeiten der letzten zehn Jahre. Seine im Kongo aufgenommene Dokumentation »Enjoy Poverty« zeigt auf extrem direkte Art, wie sich die Bekämpfung von Armut zu einem lukrativen Geschäft für die Industriestaaten entwickelt hat. Ausgehend von seinem Postulat, dass sich die kapitalistische Ausbeutung von Armut nicht beseitigen lässt, hat er beschlossen, die Problematik zuzuspitzen, ihre Logik an einen Punkt zu führen, wo sie in totalen Irrsinn kippt. Er hat ausgebeuteten Plantagenarbeitern den Kapitalismus erklärt und versucht, ihnen klarzumachen, dass Armut ihr natürliches Produktionsmittel sei und sie lernen sollten, daraus Profit zu schlagen: So könnten sie beispielsweise ihre armseligen Lebensumstände selbst fotografieren und die Bilder verkaufen, anstatt dieses Geschäft den internationalen Presseagenturen zu überlassen. »Enjoy Poverty« ist auf jeden Fall ein wichtiger und verstörender Film, extrem sachlich und zugleich eine Totalentlarvung dokumentarischer und journalistischer Scheinobjektivität. *1973 in den Niederlanden, lebt in Amsterdam, Brüssel und Kinshasa

Cyprien Gaillard, Real Remnants of Fictive War IV, 2004
Courtesy Bugada & Cargnel, Paris

Cyprien Gaillard


Obwohl mich ein einhelliges Urteil in der Kunstwelt immer misstrauisch macht und Cypriens Arbeiten einen nostalgischen Aspekt haben, zu dem mir der Zugang fehlt, finde ich seinen Erfolg total gerechtfertigt. Cyprien ist ein gutes Beispiel für jemanden, der sich mehr für Geschichte und kulturelle Fragestellungen interessiert als für den Ausdruck des eigenen Selbst. Ausgangspunkt seiner Arbeiten ist die Beobachtung, wie die aktuelle Stadtplanung das modernistische Erbe zerstört und ein Teil der Geschichte einfach ausgelöscht wird. Cypriens Strategie besteht darin, diese Momente der Zerstörung in Ereignisse und/oder Monumente zu verwandeln. Seine Kunst schreibt Momente in die Geschichte ein, die eigentlich nicht festgehalten werden sollten, und historisiert und monumentalisiert vermeintlich unbedeutende transitorische Momente. Cyprien hat auf einer realistischen und doch ambitionierten Ebene einen interessanten Weg gefunden, Fragen zum öffentlichem Raum und zu Monumentalität neu zu stellen und sich anzueignen. Ich mag es, wie er in seinen Arbeiten zu möglichst direkten Lösungen kommt, ohne auf einen zusätzlichen künstlerischenWert zu achten. *1980 in Paris, lebt in Paris und Berlin

Anetta Mona Chişa & Lucia Tkáčová
Manifesto of Futurist Woman (Let's Conclude), 2008
Courtesy of Collectiva, Berlin

Anetta Mona Chişa & Lucia Tkáčová


Ihre Arbeiten beruhen auf einer Interpretation von Geschichte, bewegen sich allerdings in zwei Richtungen: auf der einen Seite die ernsthafte historische Recherche zu kulturellen Fragen, auf der anderen der ausgeprägte Wille, das System der zeitgenössischen Kunst in seinen trivialsten und kleinlichsten Aspekten zu dekonstruieren. Umgesetzt wird das über ein seltsames Nivellieren von Referenzen, von der Interpunktion in Marx’ »Kapital« bis zu Dingen, die aus Galerien geklaut wurden. In diesem Zugang liegt auch etwas sehr Entspanntes. Die Arbeiten wirken furchtlos, auch unverschämt. Die Künstlerinnen sind sich der Tatsache sehr bewusst, dass alle Systeme codiert sind.Kennt man denCode nicht, ist man mit etwas konfrontiert, das entweder undurchschaubar ist oder keinen offensichtlichenWert besitzt. *in Rumänien /*in der Slowakei, leben in Prag

Arnaud Maguet, Prospective XXIe siècle, 2008

Arnaud Maguet


Von den hier vorgestellten Arbeiten kenne ich Arnauds am wenigsten, aber so wie ich interessiert er sich hauptsächlich für Musik. Ich habe das Gefühl, es gelingt ihm, einen gemeinsamen Raumfür Musik und bildende Kunst zu schaffen. Ohne Musik gäbe es Arnauds Arbeiten nicht, andererseits wären sie außerhalb der bildenden Kunst nicht denkbar. Er betreibt auch ein Musiklabel, Les Disques en Rotin Réunis. Eine meiner Lieblingsarbeiten ist »Prospective 21ème siècle«, ein Diaprojektor, der auf ein leicht psychedelisches Blatt Silberpapier Bilder wirft, die nach und nach den Text eines Sun-Ra-Stückes ergeben, »space is the place, there is no limit«. Der Projektor steht auf einem Gitarrenverstärker, und die Geräusche der durchlaufendenDias werden durch eine Echokammer verstärkt. Diese Ansammlung von Equipment ist eine absurde, aber perfekte Kombination verschiedenartiger Elemente – als ob der beste Weg, eine Einheit aus zwei Dingen zu bilden, der wäre, sie einfach zusammenzustellen. AmEnde wirkt dieKombination der visuellen und akustischen Apparate wie von denGeräten selbst arrangiert, jenseits der Kontrolle des Künstlers. *1975 in Toulon, lebt in Nizza