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Portrait Hermann Nitsch

No. 41 / Herbst 2014

Piotr Uklanski & Hermann Nitsch
Photo: Wolfgang Thaler


Der Moment ist Ewigkeit


Seit über fünfzig Jahren ist HERMANN NITSCH eine legendäre Figur der österreichischen Kunst. In seinem Orgien Mysterien Theater werden Akteure, Blut, Innereien, Prozessionen, symbolische Kreuzigungen, Musik, Tanz und ritualhafte Gesten zu einer neuen Form des Gesamtkunstwerks: ein heidnisches Fest, das auf eine kollektive Katharsis zielt. Aber Nitsch ist auch Maler, am bekanntesten sind seine Schüttbilder mit Blut. Der in New York lebende Künstler PIOTR UKLANSKI, selbst an Kontroversen gewöhnt, besuchte Nitsch in seinem Schloss im niederösterreichischen Prinzendorf und sprach mit ihm über Parallelen von Kunst und Religion, seinem Desinteresse an Politik und das Wesen des Seins.

PIOTR UKLANSKI: Sind Sie Pole?

HERMANN NITSCH: Nein, mein Name ist Nitsch. Nietzsche war der Pole.

UKLANSKI: Sie sind also kein Pole.

NITSCH: Nein, ich bin kein Pole. Aber der Name … schon! Ich bin mir nicht sicher, ob er jüdisch ist oder von den Zigeunern kommt.

UKLANSKI: Ich bin gestern mit dem Auto von Warschau hierher gefahren – über Grenzen, durch Berge und den Regen, vorbei an der Stadt Częstochowa. Es war fast religiös, wie eine Wallfahrt – um Sie zu sehen.

NITSCH: Częstochowa, wo die Schwarze Madonna ist. Moment einmal. Sie sprechen Englisch wie ein Amerikaner. Wo ist Ihr polnischer Akzent?

UKLANSKI: Mogę z panem mówić po polsku jak pan ma ochotę.

NITSCH: Sprechen Sie auch Deutsch?

UKLANSKI: Nein, nicht wirklich.

NITSCH: Also müssen wir in Englisch weitermachen.

UKLANSKI: Wie haben Sie begonnen? Normalerweise interessieren sich junge Menschen für Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll. Aber Sie waren als junger Mann an Religion und Psychoanalyse interessiert.

NITSCH: Ich war immer schon alt. Schon als ich achtzehn war, fühlte ich mich älter als meine Freunde. Ich habe mich nicht für Jazz interessiert, was ein Fehler war, denn Jazz ist eine wunderbare Musik. Ich hatte kein Interesse an »neuer« Musik. Ich hatte ein kleines Moped, das ich mir mit dreizehn gekauft hatte – das war meine Welt. Ich bin sehr gerne über die Felder gefahren, den ganzen Weg bis nach Bayern.

UKLANSKI: War das gleich nach dem Krieg? Späte 40er oder frühe 50er? Als Sie achtzehn Jahre alt waren, haben Sie figurative Bilder gemalt. Haben Sie nicht »Kreuzigung nach Rembrandt« 1955–56 gemalt?

NITSCH: Nach meinem Abschluss an einer Schule für Gebrauchsgrafik, kopierte ich Alte Meister und so weiter. Und ich interessierte mich für Dichtung. Ich habe Georg Trakl gelesen. Seine Gedichte haben mich sehr beeinflusst. Wie auch der Symbolismus und der Deutsche Expressionismus.

UKLANSKI: Trakl hat sich umgebracht.

Kreuzigung nach Rembrandt, 1955–56
Öl auf Hartfaserplatte
136 x 157 cm

NITSCH: Er war ein starker Trinker.

UKLANSKI: Er trank apothekenpflichtigen Alkohol. Da Trakl Apotheker war, hatte er kein Problem mit dem Nachschub. Was halten Sie von Remarque?

NITSCH: Nicht so viel. Remarque fand ich nicht gut genug. Ich begann mich dann für alle Arten von Religion und Philosophie zu interessieren. Und nicht zuletzt, Musik! Musik war sehr wichtig für mich – jede Art von religiöser Musik – aber auch zeitgenössische klassische Musik in dieser Zeit: die Zweite Wiener Schule mit Arnold Schönberg, und John Cage. Ich habe viel von der Geschichte der Musik gelernt, und ich habe mein eigenes System einer Notenschrift entwickelt. Um 1957 habe ich aufgehört Kunst zu machen, und nur noch an meinen Theaterprojekten gearbeitet.

UKLANSKI: 1957 haben Sie manifestartig verkündet, dass Sie mit der Malerei fertig seien. Doch ein paar Jahre später sind Sie wieder zu ihr zurückgekehrt. Heute könnte man das als kommerzielle Strategie verstehen, aber nicht damals. Was ist passiert?

NITSCH: Ich habe wieder zu malen begonnen nachdem ich Ausstellungen von Arnulf Rainer und Jackson Pollock in Wien gesehen hatte. Ich hatte den Eindruck, diese Maler, und auch die Tachisten, konnten in der Malerei erreichen, was ich mit dem Theater versuchte und dachte »Okay, ich muss wieder zu malen beginnen.«

UKLANSKI: Was gefiel Ihnen am Informel oder Tachismus? War es die Textur? Oder war es die Philosophie hinter dem Informel, für das Kunst ein Weg war, das Trauma des Krieges zu verarbeiten.

NITSCH: Ich war sehr angetan von Arbeiten, die alle Sinne benutzen. Und ich wollte aus einer Situation der Unterdrückung ausbrechen. Ich wollte, dass die gesamte Intensität in der Malerei wie in meinem Theater zum Ausdruck kommt. Ich war interessiert an der intensiven Schönheit des kollektiven Moments.

UKLANSKI: Aber Sie haben keine hübschen Bilder gemalt?

NITSCH: Nie.

UKLANSKI: Es war ein großer Schritt von Ihren figurativen Malereien der 50er zu den Wachsmalereien der frühen 60er – das war eine ungewöhnliche Entscheidung für ein archaisches Medium. Anstatt einen Pinsel zu verwenden, gossen Sie Wachs auf die Oberfläche der Leinwand. Lagen die Bilder dabei flach am Boden? Diese Malereien sind sehr stark. Die Abrinner sind brutal, wie aus einer aufgeschlitzten Kehle oder Menstruationsblut. Das ist ähnlich wie bei den späteren Malereien, die oft so aussehen als hätten Sie sich die Venen aufgerissen um zu malen. Glauben Sie die Geste wirkt so physisch, weil es ein fast figuratives Bild von Blut ist?

Wachsbild, 1960
60 x 80 cm

NITSCH: Für mich war Intensität immer sehr, sehr wichtig. Manchmal ist Gewalt notwendig. Lauwarme Leute, denen es an Intensität fehlt, sind traurig.

UKLANSKI: Sie haben einmal gesagt, »man muss zerstören, um zu schaffen«. Ist das eine Anspielung auf Dionysos?

NITSCH: Ein dionysischer Zugang ist Kreation/Destruktion zugleich – man kann sagen, im selben Moment.

UKLANSKI: In so vielen verschiedenen Religionen und kultischen Praktiken gibt es keine Erlösung ohne Tod oder Zerstörung; sie sind notwendig um Katharsis oder Heilung herbeizuführen.

NITSCH: Ja. Also, ich habe diese Idee aus dem Katholizismus. Wir holen alle unsere verdrängten Wünsche hervor. Das ist gut. Das ist sehr gut. Man soll sie über die Kunst und Therapie und nicht im Krieg hervorholen.

UKLANSKI: Hat Ihrer Meinung nach die Kunst die Religion ersetzt, wenn es um die Katharsis geht?

NITSCH: Ja. Leute fragen mich oft über die Beziehung meiner Arbeit zur Religion. Ich bin kein Priester, aber ich glaube, dass Künstler und Priester einander sehr ähnlich sind. Obwohl ich glaube, man sollte nicht sagen, dass wir Priester waren. Aber das Sakrale und das Ritual interessierten mich. Ich war nicht daran interessiert, Wege zu erfinden, um Gott zeitgenössisch zu machen.

UKLANSKI: Also meinen Sie, das Mysterium der Kunst kann das Mysterium der Religion ersetzen?

NITSCH: Ja, ich kann zur Kunst eine religiöse Beziehung haben. Wenn ich im Metropolitan Museum bin, das ist meine Religion.

UKLANSKI: Wie weit geht das? Rothko glaubte, er schaffe mit den Malereien für seine Kapelle in Houston eine spirituelle Erfahrung. Ich frage mich, wenn Sie bei Ihren Theaterperformances die Ikonografie der katholischen Kirche einsetzen, ein Kreuz, Priestergewänder oder einen Kelch, ist das nur ein Zitieren der Kirche oder auch eine Kritik an ihr?

NITSCH: Ich kritisiere sie nicht. Ich war nie interessiert an Kritik. Es gab nur Faszination. Ich arbeite nicht an der Transsubstantiation, Priester schon. Gläubige glauben an die Kraft einer Priesterrobe und verehren sie. Aber verstehen Sie mich nicht falsch: Ich habe keine Interesse, die traditionelle Religion zu erneuern oder zu ersetzen.

UKLANSKI: Sie wurden katholisch erzogen, oder?

NITSCH: Ich wuchs katholisch auf, aber war an allen Religionen interessiert. Ich interessiere mich für das Buch Genesis und die Geschichte der Kirche. Aber ich bin kein Gläubiger. Ich glaube nur an die Erschaffung von allem. Wir hätten Wein hier.

UKLANSKI: Arbeiten Sie noch?

NITSCH: Immer. Wenn ich schlafen gehe und wenn ich aufwache.

UKLANSKI: Es ist auch einfach – ist Ihr Atelier nicht nur einen Stock höher? Was interessiert Sie daran, immer noch zu arbeiten? Geht es immer noch um das Erschaffen? Das Vergehen von Zeit? Gott ins Auge zu sehen?

NITSCH: Ich weiß nicht, ob Gott existiert oder nicht. Das ist nicht die wichtigste Frage.

UKLANSKI: Was ist die wichtigste Frage?

NITSCH: Was ist das Sein? Das Sein ist für mich das Größte.

UKLANSKI: Denken Sie manchmal daran nicht zu sein?

NITSCH: Ich glaube Ich bin Sein. Das ist mein Bewusstsein.

Aktionsfotografie aus der 14. Aktion, 29.9.1965, Wien
Photo: Franziska Krammel

UKLANSKI: Aber denken Sie über den Tod nach? Ist der Tod das Ende des »Seins«? Asche zu Asche.

NITSCH: Es gibt kein Ende. Ich habe Angst vor dem Tod, aber ich weiß, dass ich zurückkomme … in alles, was es da draußen gibt. Ich bin in Euch. Es kann sein, dass mein Bewusstsein und mein Sein verschwindet. Aber ich werde in Euch und allem anderen sein.

UKLANSKI: Aber diese Philosophie muss sich in Ihrer aktuellen Arbeit ausdrücken. Wie sehen die neuen Malereien aus?

NITSCH: Im Moment arbeite ich an Auftragsmalereien für ein Mausoleum für Gefallene des 1. Weltkriegs in der Türkei, in der Nähe der antiken Stadt Troja. Dort fanden sehr blutige Kämpfe statt. Sehr viele Menschen sind gestorben …. Aber ich interessiere mich nicht für Politik.

UKLANSKI: Hm. Sie wurden für ihre künstlerische Praxis eingesperrt; all die Gewalt, Tod, Blutbad, Massaker, woran dieser Auftrag erinnert – und trotzdem sagen Sie, Sie sind an Politik nicht interessiert? Wie wollen Sie damit durchkommen? Der zeitgenössische Diskurs wird Ihnen das nicht verzeihen.

NITSCH: Nehmen wir eine Malerei von Monet oder hören wir die »Passionen« von Bach, und es ist offensichtlich, dass hier etwas passiert, und zwar passiert etwas in Richtung »Form«. Form ist für mich sehr, sehr wichtig – ästhetisch und metaphysisch.

UKLANSKI: Soll die Suche nach der perfekten Form Ihrer eigenen Sterblichkeit oder Schwäche entgegenwirken?

NITSCH: Der Moment ist sehr wichtig. Der Moment ist Ewigkeit.

UKLANSKI: Ich denke die ganze Zeit an den Tod. Die Sonne wird erlöschen und der Planet sterben. Welche Ewigkeit!?

NITSCH: Die Wiederholung; der Kreislauf des Lebens, von der Geburt bis zum Tod und wieder von vorne.

UKLANSKI: Ich hätte gerne mehr Wein bitte. Wie kamen Sie auf die Idee, das Kolorit Ihrer Malereien so einzuschränken? Das wurde zu Ihrem Markenzeichen.

NITSCH: In der ersten Zeit war es rot.

UKLANSKI: Blut.

NITSCH: Ja, Blut.

50. Aktion, 27.7.1975
Courtesy Sammlung Friedrichshof
Photo: Beate Nitsch

UKLANSKI: Sie wussten, wie Markus Prachensky damals arbeitete, ja? Wie Sie goss er rote Farbe auf die Leinwand. War das ein Wettkampf zwischen Ihnen beiden?

NITSCH: Nein. Für mich war Arnulf Rainer sehr wichtig. Es gibt eine Arbeit von Rainer aus dem Jahr 1956, eine »Übermalung« – es war ein Bild, auf dem die Farbe hinunter rann. Ja, diese Arbeit beeindruckte mich. Prachensky malte live für Publikum, und es stimmt nicht, dass seine Performances mich beeinflussten. Trotzdem, er verwendete ausschließlich rote Farbe. Aber für mich war die Farbe Rot die einzige Möglichkeit, weil es eine Verbindung zu Religion und dem Primitiven gibt. Wie auch immer, ich respektierte Prachensky. Er ist der Begründer dieser Art zu malen.

UKLANSKI: War er auch Pole? Die Deutschen sagen gerne, dass Kopernikus ein Deutscher war und die Polen, dass er Pole war. Es ist das gleiche mit Chopin und den Franzosen.

NITSCH: Und manche sagen, dass Haydn Ungar war.

UKLANSKI: Haben Sie sich formell‚ mit Psychoanalyse beschäftigt?

NITSCH: Ich habe Freud und Jung studiert. Die Psychoanalyse war sehr wichtig für mich.

UKLANSKI: Was ist mit Wilhelm Reich und seinen Lehren?

NITSCH: Er ist ein großer Mann, aber ich interessiere mich nicht für Politik. Er war viel zu links.

UKLANSKI: Sind Sie derzeit in Analyse?

NITSCH: Nein.

UKLANSKI: Was ist mit Josef Dvorak, der Ihr Galerist war?

NITSCH: Ja, das war er.

UKLANSKI: War er nicht zugleich Psychoanalytiker?

NITSCH: Er war mein Psychoanalytiker und mein Galerist.

UKLANSKI: Das ist verrückt! Wie waren die Gespräche mit Dvorak? Haben Sie Jungs Kunstwerke oder Mütter besprochen? War er ein besserer Analytiker oder Kunsthändler?

NITSCH: Er war ein sehr schlechter Verkäufer, aber ein sehr guter Analytiker. Dvorak sprach über Psychohygiene – die Reinigung des Geistes.

Aktionsfotografie aus der 80. Aktion, 27.–30.7.1984
3-Tage-Spiel Schloss Prinzendorf
Photo: Archiv Cibulka

UKLANSKI: Wurde dieser Ausdruck in Ihrem Kreis in den 60ern verwendet, oder kam das erst später, als dessen Kunstgeschichte geschrieben wurde?

NITSCH: Es war sehr wichtig.

UKLANSKI: Also übernahmen Sie den Ausdruck erst im Nachhinein?

NITSCH: Sie haben mir jetzt ein Wort gelernt.

UKLANSKI: Als Sie wegen Ihrer Aktionen im Gefängnis waren, waren Sie da mit Verbrechern in einer Zelle, oder allein?

NITSCH: Beim ersten Mal mit Verbrechern. Das zweite Mal hatte ich meinen eigenen Raum. Die Insassen waren okay. Sie haben den Künstler verehrt.

UKLANSKI: War die Zeit im Gefängnis etwas, das Ihren Blick auf die Gesellschaft erweiterte oder schärfte, oder war es der Preis, den Sie zahlen mussten. War das Gefängnis wie das Fegefeuer?

NITSCH: Nein. Das ist nicht richtig. Aus dem Fegefeuer gibt es zwei Wege: man kann in die Hölle gehen. Ich war drei Mal eingesperrt, und dann musste ich das Land verlassen.

UKLANSKI: Wann mussten Sie Österreich verlassen?

NITSCH: Ich wurde 1966 eingesperrt. Ich wurde angekettet, mit Handschellen gefesselt, und als man mich mit einem herabgesetzten Strafmaß freiließ, ging ich nach Deutschland, in die USA, und dann zurück nach Deutschland, wo ich lange an meinen Theaterarbeiten und an meinem Bierbauch arbeitete. Das war von ’68 bis ’78. Fast zehn Jahre.

UKLANSKI: Dort haben Sie sich also Ihr Image erarbeitet. Es gibt nicht so viele Werke von Ihnen aus den 70ern, die man einfach finden könnte. »Turn on, tune in, drop out«? Haben Sie Drogen genommen?

NITSCH: Nein. Nur Wein.

UKLANSKI: Nicht mal einen Joint?

NITSCH: Bier, aber meistens Wein.

UKLANSKI: Das verbindet Sie mit Dionysos.

NITSCH: Mehr Wein?

Nitsch, 1966
Ausstellungsplakat Galerie J. Dvorak, Wien 1966
Offsetdruck, 60 x 35 cm

UKLANSKI: Sie verwenden den Begriff »Orgien«, um ihre Theaterarbeiten zu beschreiben. Was wollen Sie damit ausdrücken? Hatten die Leute wirklich Sex während dieser »Orgien«?

NITSCH: Die Orgie ist eine Fantasie. Ich verstehe die Orgie als höchste Erfahrung – um alle unsere Sinne einzusetzen. Man kann eine Orgie im Theater, in der Musik, in der Malerei, im Sex haben. Aber nein – wir dürfen Sex nicht in die Kunst fließen lassen.

UKLANSKI: Ist es eine intensivere Erfahrung, wenn man mit mehreren Partnern zugleich Sex hat?

NITSCH: Darüber denke ich nicht nach.

UKLANSKI: Es gibt viel Nacktheit in Ihren Theaterarbeiten. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Genitalien, meist männliche, zu zeigen und sie mit abjekten Dingen wie etwa Tierhirnen zu bedecken.

NITSCH: Ich bin ein Künstler, und ich arbeite mit dem, was mich umgibt. Ich mag die Impressionisten … und ich mag Marquis de Sade.

UKLANSKI: Ich finde es faszinierend, wie sexualisiert Ihre Arbeit sein kann. Nehmen wir zum Beispiel Ihr frühes »Wachsbild « (1960). Es sieht aus wie eine Wunde – das Stigma Jesu. Oder ein Anus. Ihre Arbeiten waren so viel expliziter als jede Kunst davor – besonders in der Art wie Todestrieb und Erotizismus aufeinandertreffen.

NITSCH: Sagen wir, es gibt immer einen Fortschritt; sie sind immer neue Dinge. Und ich hoffe, ich habe ein paar neue Dinge gemacht.

UKLANSKI: Kennen Sie Luce Irigaray – die französische Psychoanalytikerin und Philosophin, die über den mittelalterlichen Andachtskult geschrieben hat, in dem die Wundmale Christi verehrt werden? Sie hat sich besonders auf das seitliche Wundmal Christi konzentriert. Aus einer psychoanalytischen Perspektive meint sie, dass das Seitenwundmal wie eine Vagina aussieht – sie nannte es »die prächtige Spalte« und stellt eine Entsprechung her zwischen der religiösen Ekstase, die man empfindet, wenn man vor der Wunde meditiert, und der jouissance, dem Genießen des Orgasmus.

Farbenlehre des Orgien Mysterien Theaters, 1969
Ölpastelkreide auf Papier
71,5 x 60,5 cm

NITSCH: Ich glaube, dass sowohl das Stigma wie das Seitenwundmal wie eine Vagina aussehen.

UKLANSKI: Sie zeigen die Genitalien, doch Sie verbinden die Augen der Schauspieler im Theater. Augenbinden sind ein sehr wichtiges Element in Ihrer Arbeit. Warum?

NITSCH: Eine Malerei von Fra Angelico gibt die Antwort. Die Augenbinde: Jesus Christus hatte eine.

UKLANSKI: Symbolisiert die Augenbinde Kastration?

NITSCH: Ja, aber es ist nicht nur symbolisch. Das Symbolische zieht die Leute an. Mir ist das sehr wichtig. Man fragt mich oft, warum ich Würfelzucker verwende. Warum? Was bedeutet das? Es ist, was es ist: nur Zuckerwürfel. Und es ist die Aufgabe des Betrachters mit möglichen Assoziationen zu arbeiten und die Verbindung zum Symbolischen herzustellen. In meiner Arbeit ist das Schaf ein Schaf, und nicht ein Symbol von Jesus Christus.

UKLANSKI: Die Augenbinde in Ihren Arbeiten ist voller Gewalt.

NITSCH: Sie ist, was sie ist.

UKLANSKI: Wie erklären Sie es, dass in den 60ern die Reaktion auf Ihre Arbeit mit Gefängnis endete, aber Sie heute verehrt werden? Meinen Sie, es hat etwas mit der Tatsache zu tun, dass die Gesellschaft eine andere Beziehung zu Gewalt und krassen Darstellungen hat?

NITSCH: Sie werden sich erinnern, dass sich die Leute über die Impressionisten, ihre Motive – Frühstück, die Morgenzeit, die freie Natur – empört haben und gegen sie waren. Heute findet man Poster der Impressionisten in jedem Arztwartezimmer. Es ist wie bei meiner Rezeption: zuerst waren die Leute verärgert, jetzt ist es domestiziert. Ich hoffe, Sie sind nicht unglücklich mit dem Interview. Ich bin müde, aber Sie haben auch sicher genug von mir.

UKLANSKI: Ich fand es toll. Ich dachte, ich mache Sie mit all dem müde.

NITSCH: Ich bin ein Masochist.


HERMANN NITSCH geboren 1938 in Wien. Lebt in Prinzendorf. Ausstellungen: Rite of Passage: The Early Years of Vienna Actionism 1960 – 1966, Hauser & Wirth, New York (2014); 55. Biennale di Venezia (2013); Explosion: Painting As Action, Moderna Museet, Stockholm; A Bigger Splash: Painting after Performance Art, Tate Modern, London (2012); The Pharmacy, Leo Koenig inc., New York (2011) (solo). Seine Arbeiten sind im Hermann Nitsch Museum in Mistelbach und Neapel permanent zu sehen.

PIOTR UKLANSKI ist Künstler und lebt in New York.