
Performance, Students Cultural Centre, Belgrad, 1975
Foto: Marinela Koželj
Bohnen sind die Basis
Die Belgrader Szene der siebziger Jahre, frühe Performances und kurze Geschichten über die Kunst. HANS ULRICH OBRIST im Interview mit RAŠA TODOSIJEVIĆ
HANS ULRICH OBRIST: Fangen wir am Anfang an.
RAŠA TODOSIJEVIĆ: Ich schreibe Geschichten über Kunst [zeigt ein Exemplar von »Stories on Art«]. Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger, als wir noch sehr jung waren, wollte niemand über uns schreiben. Also habe ich damit begonnen, über damals neue Ideen in der Kunst zu schreiben, Konzeptkunst und so weiter. Eines Tages sagte ich mir: Ich will kein objektiver Kunstkritiker am Vormittag und ein subjektiver Künstler am Nachmittag sein. Also habe ich die Kunstkritik aufgegeben und stattdessen begonnen, Kurzgeschichten zu schreiben, apokryphisch, mit einer Idee von Kunstkritik, aber mit einem vollkommen anderen Zugang.
OBRIST: Erfundene Geschichten?
TODOSIJEVIĆ: Die meisten sind erfundene Geschichten, weil ich die Wahrheit nicht liebe. Kunst ist Fiktion, Kunst ist nicht Wahrheit.
OBRIST: Du hast ziemlich regelmäßig geschrieben, zuerst als Kritiker, dann diese Geschichten. Ist das eine tägliche oder eine sporadische Praxis?
TODOSIJEVIĆ: Leider eine tägliche Praxis. Leider. Ich schreibe nicht gerne! Ich bin ein sehr fleißiger fauler Mensch. Ein Widerspruch! Ich bin ein fleißiger, fleißiger, fauler, fauler Mensch (lacht). Also ich verbringe viel Zeit mit dem Schreiben von Kurzgeschichten. Ich sehe mich nicht gerne in Konkurrenz zu den Autoren, Kritikern und Kuratoren. Ich schreibe meine kleinen Geschichten und lasse die anderen in Ruhe.
OBRIST: In den Sechzigern warst du Mitglied von »New Art Practice«, einer Gruppe von sechs Künstlern, zu der auch Zoran Popovic, Nesa Paripovic, Urkom Gergely, Marina Abramovic und Era Milivojevic gehörten. Es gab sie nicht lange, aber es war ein sehr wichtiger Moment in der Belgrader Kunstszene.
TODOSIJEVIĆ: Die Gruppe gab es drei oder vier Jahre. Wir waren zusammen auf der Akademie und spuckten auf unsere Professoren. Als junge, aber verdammt smarte Künstler waren wir unzufrieden mit unserer Situation. Unsere Professoren waren faule, fette und dumme Leute. Als wir eines Tages nach den Sommerferien zurückkamen, sagten wir: Alles, worüber ihr sprecht, ist falsch. Wir haben die echten Bilder gesehen, und ihr habt unrecht. Aber wir waren gezwungen, still zu sein und nicht offen auf die Professoren zu spucken. Unsere einzige Strategie war es, nicht zu arbeiten. Im letzten Studienjahr haben wir es dann aufgegeben, regelmäßig in die Klassen zu gehen. Bald nach Abschluss der Akademie haben wir begonnen, ins SKC (Studentenkulturzentrum) zu gehen und zu sagen, schaut, wir bringen euch wirklich neue Dinge, wir machen eine neue Kunst für Belgrad. Wirklich, du kannst es mir glauben, wir wollten die Dinge ändern. Den Vater töten, was ich gut finde. Aber Freud hatte nicht wirklich recht mit diesem Töten. Dieses Töten dauerte lange, nicht nur einen Augenblick (lacht). Und wir haben die normalen Galerien abgeschrieben. Das SKC gab uns die Möglichkeit, Kunst zu machen, wie wir es wollten, Ausstellungen zu machen, wie wir sie wollten. Nächsten Samstag möchten wir eine Ausstellung machen. Okay. Das ging ohne zu warten und ohne sich dafür bewerben zu müssen. Und außerdem nutzten wir unsere Freundschaften aus dem Ausland, brachten internationale Künstler nach Belgrad, um zu zeigen, dass wir nichts Eigenartiges sind, dass wir eine ganz normale Praxis verfolgen. Als wir anfingen, wurde nämlich gesagt: Diese jungen Leute sind Idioten, die machen so dumme Sachen, so etwas gibt es sonst nirgends. Wie begannen also, Künstler aus anderen Ländern einzuladen, die zu der Zeit noch nicht sehr bekannt waren. Jetzt sind viele von ihnen Megasuperstars. Francesco Clemente, Jannis Kounellis, Chiari oder Gina Pane, Daniel Buren, Joseph Beuys ...

Performance, Students Cultural Centre Belgrad, 1960s
Foto: Marinela Koželj

International Performance Festival, Wien
Foto: Tom Marioni

Performance, SKC Gallery, Belgrad
Foto: Miša Savić
OBRIST: Was hat dich mit Marina Abramovic und ihrem ersten Mann, Nesa Paripovic, verbunden?
TODOSIJEVIĆ: Freundschaft.
OBRIST: Nicht die Arbeit?
TODOSIJEVIĆ: Nein. Generell teilten wir die Absicht, Neues zu schaffen. Das Neue war zu der Zeit eine etwas nebulöse Idee. Es war eine sehr produktive Zeit, wir schrieben Manifeste, machten Poster, Filme, Performances, verfassten Texte, machten Fotos und Aktionen, so genannte aleatorische Arbeiten, Body Works …
OBRIST: Wie ist dein Zugang zur Revolution? Felix Gonzalez-Torres, der kubanisch- amerikanische Künstler, sagte mir in den frühen Neunzigern, »Revolution ist eine Energieverschwendung«. Würdest du dem zustimmen?
TODOSIJEVIĆ: Ja und nein. Manchmal müssen sich Künstler mit Utopien befassen. Manchmal, nicht jeden Tag. Die Rolle des Künstlers ist es nicht, Politik zu narkotisieren, sondern ästhetische Politiken zu politisieren.
OBRIST: Habt ihr eure Manifeste in Magazinen veröffentlicht?
TODOSIJEVIĆ: Zu dieser Zeit gab’s nur ein oder zwei Kunstmagazine in Jugoslawien. Deshalb veröffentlichte ich meine Sachen meistens in einer Art Literaturmagazin, das sich nicht sonderlich um Kunst kümmerte (lacht). Das war viel unkomplizierter. »Wer profitiert von der Kunst?«, »Wer ist für Kunst und warum?«, »Wer ist gegen Kunst und warum?«. Das waren große Artikel, zwanzig Seiten lang.
OBRIST: Das hatte auch viel mit Ökonomie zu tun.
TODOSIJEVIĆ: Ja, ja. Obwohl wir zum Westen gehörten während der Sechziger und Siebziger, gab es hier die Idee, dass es die Basis, die Infrastruktur und die Metaphysik gibt. Die Arbeit ist die Basis, Geld ist der Überbau und Kunst ist irgendwo weiter oben. Ich sagte nein, Kunst ist die Basis, Bier ist die Basis, Bohnen sind die Basis. Ja, das war eine Art, sich mit Ökonomie zu beschäftigen. Wer verdient an der Kunst? Meine Meinung dazu war, dass die ganze Gesellschaft an der Kunst beteiligt ist. Darum geht es.
OBRIST: Wann hast du deine erste Body Performance gemacht?
TODOSIJEVIĆ: Die erste richtige Performance war 1970. Wir machten sie zusammen in Edinburgh. Da war ich, Marina, Zoran Popovi?, Urkom Gergely und Jasmina Kali?.
OBRIST: Das war »The Citizen as Art« am Melville College. Kannst du mir erzählen, was da passierte?
TODOSIJEVIĆ: Das ist verdammt lange her … Ich hatte einen Goldfisch. Ich schmiss den Goldfisch auf den Boden und begann, meinen Körper mit Schlamm zu bemalen, rannte dann durchs Melville College und wartete, dass der Goldfisch starb. Die Leute sagten, oh Gott, bring’ den Goldfisch wieder ins Aquarium, sie begannen, wegen Fischen zu heulen. Sie essen so viele Hühner jeden Tag, warum heulen sie um Fische? Und meine Frau saß im Unterschied zu mir sehr, sehr ruhig da.
OBRIST: Du hast seit den Siebzigern mit Erinnerung gearbeitet und hast 1975 diese berühmte »Memoria«-Arbeit gemacht.
TODOSIJEVIĆ: Ich sagte die Namen von allen Künstlern aus der ganzen Kunstgeschichte auf, die mir einfielen. Das dauerte ziemlich lange. Ich ging nach keinem System vor, ich begann einfach, Namen aufzusagen. Es war eine lange, eine lange und schwierige Performance mit all den Namen. Ich machte sie, ohne vorher zu proben. Ich saß am Tisch mit einem Mikrofon und begann, die Namen aller Künstler abzurufen, die ich kannte. Ich fing symbolisch mit Altamira an und habe mir instinktiv damit beholfen, dass ich einer einigermaßen historischen Chronologie folgte: Sumerer, Assyrer, Babylon, Ägypten, Kreta, Griechen und so weiter bis zur Moderne, dem 20. Jahrhundert. Meine Kunstgeschichte ist nur die, die ich im Kopf habe. Mein Gedächtnis ist die Grenze meiner Geschichte der Kunst.

Bleistift auf Papier, alle 100 x 30 cm
Foto: Reljić

Installationsansicht, SKC Gallery, Belgrad
Foto: Marinela Koželj
TODOSIJEVIĆ: Ja, ich bereite auch gerade eine Oper vor. Ich bin gerne in der Stimmung des späten 19. Jahrhunderts [singt]. Eine andere Sound-Arbeit ist eine mit Transistorradios. Ich stellte die Radios auf verschiedene Sender, schlug drei Löcher in die Galeriewand und in diese Löcher setzte ich die drei Radios. Ich verspachtelte die Löcher wieder, schliff die Wand und übermalte sie mit weißer Wandfarbe. Ich nannte die Arbeit »Invisible Sculpture – Endless Music«. Die Skulptur war unsichtbar und die Musik von dem Zeitpunkt an endlos. Die Radios sind immer noch in der Wand des SKC, schon über zwanzig Jahre lang. Es gibt noch einen anderen Aspekt in dieser Arbeit, einen traditionellen: etwas zu opfern, damit ein Gebäude gelingt.
OBRIST: Spielt Unsichtbarkeit auch bei deinen Arbeiten über den White Cube eine Rolle? Du hast diese wunderbare Arbeit »One Line in a Deserted House« gemacht. Eine Linie in einem Haus, und dann 10.000 Linien in einer Galerie.
TODOSIJEVIĆ: Ich habe begonnen, mich mit Arbeit und künstlerischer Praxis auseinanderzusetzen, und stürzte mich als erstes auf die Idee: Kein Tag ohne Linien. Es heißt, Fortschritt käme, wenn man jeden Tag an etwas arbeitet. Also dachte ich mir, okay, ich folge dieser Regel wörtlich. Kein Tag ohne Linie. Das ist auch ironisch gemeint [lacht]. Also machte ich »One Line in a Deserted House«, und »200,000 Lines for the Paris Biennale«. Einen Scherz machen, analysieren. Aber dann hörte ich auf, damit zu arbeiten, weil man die Idee sofort mit der der Minimal Art in Verbindung brachte.
OBRIST: Deine Praxis wird als sehr konzeptuell betrachtet. Es hat seit den Sechzigern viele Diskussionen über den nomadischen Künstler gegeben, und über dich wurde viel als einen nomadischen Künstler geschrieben. Arbeitet der nomadische Künstler wo immer er oder sie ist?
TODOSIJEVIĆ: Nomadismus ist eine Metapher. Es geht nicht um einen Cowboy, der von einem Ort zum anderen zieht. Es ist nicht wirklich nomadisch, von Belgrad nach Kansas City zu gehen. Es ist eine Metapher dafür, dass Künstler von einem Thema zum anderen springen können. Das ist das Nomadische. Denn früher sagte man, ein Künstler habe seinen Weg gefunden, wenn er seinen Stil gefunden hat, sein ganzes Leben lang produziert er dasselbe. Die Idee der nomadischen Kunst ist, frei zu sein, seine Themen zu wechseln, von der Performance zur Skulptur zu springen, von der Skulptur zur Malerei.
OBRIST: War Irwin von dir beeinflusst?
TODOSIJEVIĆ: Ja, besonders von der Performance »Was ist Kunst«. Es gab auch einen Einfluss auf die erste Formation der Band Laibach. Sie haben begonnen, die deutsche Sprache, Gewalt, und vor allem das Retro- Prinzip zu verwenden. Die Leute waren fasziniert von der Idee meiner Performance »Was ist Kunst?«. Jeder war überrascht. Warum benutzt du Deutsch? Jeder benutzt Englisch. Aber man kann »Was ist Kunst?« nicht so brutal auf Englisch sagen. Und auch nicht auf Französisch.
OBRIST: Das war 1976-1981, also ein fünfjähriger Performance-Zyklus. Kannst du mir noch mehr darüber erzählen?
TODOSIJEVIĆ: Ich begann damit, meine Frau zu schlagen (lacht). Ganz einfach. Ich sagte, das ist harte Arbeit, und begann, sie zu schlagen und zu fragen: »Was ist Kunst?«. Mich luden Galerien ein, einige im Osten, in Slowenien, in einer verlassenen Gegend, auf einer Insel. Die Italiener hatten das Land verlassen, und so war die Region leer, nur alte Frauen und junge, geistig behinderte Menschen lebten dort. Was tun? Das ist so ein kulturelles Nichts hier! Es gab ein österreichisches Mädchen, Patricia Hennings, sie hatte ein orientalisches Gesicht. Ich richtete die Kamera auf ihr Gesicht und schrie hinter ihr: »Was ist Kunst? Was ist Kunst?« Später dann begann ich meine Performances damit, meiner Frau eine Kapuze überzuziehen und sie zu schlagen wie während eines Polizeiverhörs. »Was ist Kunst?« war eine gute Möglichkeit, einen ironischen Kommentar auf eine solche Geisteshaltung zu machen.

Installationsansicht Museum of Contemporary Art Belgrad
Foto: Marinela Koželj
OBRIST: Ich frage mich, wie du über die politische Dimension in deinem Werk denkst. Laibach versteht sich als politisch, daher habe ich mich gefragt, ob sie von dir beeinflusst waren, ob das mit dem politischen Aspekt deiner Arbeit zu tun hat.
TODOSIJEVIĆ: Sie haben mich immer kritisiert, und einen Lügner genannt, wenn ich sagte meine Hakenkreuze seien nicht politisch. Es ist eine Beschäftigung mit Bedeutungen. Das Hakenkreuz findet sich in der Tradition Indiens, Chinas, Japans, bei fast allen Stämmen im alten Amerika, im antiken Griechenland, bei den Kelten, bei den Eskimos, im alten Rom usw. Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Erfahrung des Nationalsozialismus ist das Hakenkreuz in der Wahrnehmung der Menschen zu einem Symbol des Bösen geworden. Es gibt keine Symbole per se, sondern wir verleihen ihnen die Bedeutung. Gustave Courbet hat das Gemälde »Das Atelier des Künstlers« gemalt – eines von den ersten Bildern, die keine explizite Botschaft hatten, sondern dessen Sinn in den Augen des Betrachters geformt wurde. Das ist nur einen Schritt von Duchamps Readymades entfernt. Sowohl Courbet als auch Duchamp gehörten verschiedenen und nicht gerade ernst zu nehmenden esoterischen Kreisen an, und es ist sicher, dass die Readymades nicht aus einem Kunstdiskurs heraus entstanden.
OBRIST: Und noch eine letzte Frage. Kannst du mir etwas über dein »Condolence Book« aus dem Jahr 1977 erzählen?
TODOSIJEVIĆ: In der Geschichte wurde die Kunst oft für tot erklärt. Jeden Tag stirbt die Kunst, in der Früh, am Abend, nach dem Mittagessen. Damals war es modern, über den Tod der Kunst zu sprechen, denn Kunst ist immer tot und eine lebende Kunst eine Täuschung. Ich sagte, okay, wenn ihr denkt, dass die Kunst tot ist, dann mache ich das Kondolenzbuch auf. Man kann kommen und seine Anteilnahme ausdrücken. Es war ein ganz gewöhnliches Buch. Der erste, der sich eintragen hat, war Achile Bonito Oliva.
OBRIST: Vielen Dank für dieses Interview
Aus dem Englischen von der Redaktion
RAŠA TODOSIJEVIĆ, geboren 1945 in Belgrad. Lebt in Belgrad. Ausgewählte Einzelausstellungen (seit 2004). 1st floor gallery, Antwerpen (2006), Centre for graphics and visual research, Belgrad (2006), National Museum of Montenegro (2005). Ausgewählte Ausstellungsbeteiligungen (seit 2004): »Private space – Public space«, Culture Centre Magazine Nolit, Belgrad (2007), »Conceptual Art 1968 – 2007«, Museum of Contemporary Art, Novi Sad (2007), »Kontakt … aus der Sammlung Erste Bank«, MUMOK Wien, Museum of Contemporary Art, Belgrad (2006), »Tranzit«, Frankfurter Kunstverein, Frankfurt (2006), »Reading«, The Society of Independent Artists, San Francisco (2006), Istanbul Biennale (2005), »Parallel Actions«, Hochschule für Grafik und Buchkunst, Leipzig (2004), »BELGRADE ART INC«, Secession, Wien (2004), »Parallel Action«, Austrian Cultural Forum, New York (2004)
HANS ULRICH OBRIST ist Ko-Direktor für Ausstellungen und Programme und Direktor für Internationale Projekte an der Serpentine Gallery, London.

Installationsansicht »Europe Discovered«, Kulturbot, Kopenhagen
Foto: Mrdjan Bajić