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Portrait Moyra Davey

No. 30 / Winter 2011

32 Photographs from Paris (detail), 2009
Alle Bilder: Courtesy Murray Guy, New York

Postskripte einer Verliebten


Die Aura des Alltäglichen, das Analoge, die Hand, das Elegische. FIONN MEADE findet in den fotografischen Arbeiten der kanadischen Künstlerin MOYRA DAVEY sammlerische Obsession, systematische Aufzeichnung und nostalgischen Widerstand, was ihr Werk paradox zeitgenössisch macht.

 

Man sagt, die Wahrheit liegt in den Bildern, aber es gebe kein Bild der Wahrheit. Bilder gehören zu den vermittelnden Dingen des Lebens – zu Inschriften, Darstellungen, Zeichen – und hängen von gewohnten Verhaltens- und Wahrnehmungsmustern ab, durch die wir zu unseren Sehweisen gelangen. Bilder sind unbestimmt und fehlerhaft. Sie gehören zum Reich des Scheins, das Plato aber auch anderen als lästig und unbequem erschien. Sie sind schlechte Kopien der Wirklichkeit, denen manche glauben widerstehen zu müssen, um zu dem zu gelangen, was hinter dem bloßen Schein oder Eindruck liegt. Vielleicht. Doch wie unbestimmt auch immer, das Bild bleibt Schicksal, weil es das Verlangen des Blicks nach neuen Verbindungen in Gang setzt, Begleiter und Gefährten sucht. Jedes Bild taucht in den Strom des Sammelns, das ihm zum Teil seine Bedeutung gibt, und doch muss man immer wieder auf es zurückkommen. Es drängt vorwärts, und doch erlaubt es den Dingen wieder aufzutauchen und sich zu finden. Das dergestalt unvollkommene Bild wird zu einem Stellvertreter, der nach Ordnung und Neueinordnung drängt. Es löst sich von der einzelnen Darstellung und nähert sich dem Schnitt in der Montage. Es tritt in einen Bereich ein, den Walter Benjamin als mnemonische Form der »sammlerischen Leidenschaft« bezeichnet hat – als das rastlose und doch systematische Suchen, das »dialektisch gespannt [ist] zwischen den Polen der Unordnung und der Ordnung ... Sodann: an ein Verhältnis zu den Dingen, das in ihnen nicht den Funktionswert, also ihren Nutzen, ihre Brauchbarkeit in den Vordergrund rückt, sondern sie als den Schauplatz, das Theater ihres Schicksals studiert und liebt.«1

Betrachtet man die Arbeiten Moyra Daveys, ertappt man seinen Sammlertrieb dabei, zu bestimmten vergangenen Bildern wieder zurückzukehren und sie mit neuen Einfällen und neuen Fragen zu verbinden. Das Bild verlangt nach seinem Schicksal und drängt, es will studiert und erneut genau betrachtet, aber auch in eine Handlung verwickelt werden. Das Bild hält sich nahe an einen, es braucht diese Nähe. Es beansprucht einen Schauplatz und eine Bühne, indem es zu einer einzigartigen Form der Montage wird. »50 Photographs« aus 2003 zum Beispiel nennt Davey »wuchernde« Sequenz. Es sind seitengroße Fotos, die Einblick in die erlahmte Sehnsucht einer melancholischen Sammlerin und die Freuden fetischistischer Materialität gewähren. Mit einer faktischen Intimität untersucht die Serie einen menschenleeren Privatraum. Nah- und Halbnahaufnahmen zeigen die Überreste des alltäglichen materiellen Unterbaus: einen schlichten Beleuchtungskörper, eine leere Schnapsflasche, Regale mit einer eine alten Stereoanlage, überall Bücher und Schallplatten, die Nadel des Plattenspielers, eine markante Rohrleitung, einen sonnendurchfluteten Flur, Staub unter einer Hundepfote. Der fotografische Raum der »50 Photographs« bildet die kultivierten Handlungen des Lesens, Musikhörens und Sammelns ab. Es ist ein Innengebiet, weitab von den Verheißungen der Straße oder symbolischer Sujets. Die Arbeit ist nicht in sich geschlossen, sondern assoziativ. Sie zeigt einen analogen Blick auf etwas Abwesendes und eine Lebensweise, die sich elegisch vor uns ausbreitet.
 

50 Photographs, 2003
Installationsansicht American Fine Arts Co., New York

Die Leerstellen zwischen den »50 Photographs« sind (wie auch die Fotos selbst) weniger Wunde als ein Aufmerksamkeitsraum. Sie vermitteln einen Bewusstseinszustand, eine Stimmung und eine Gefühlsstruktur, die sonderbaren Trost im Dazwischen findet. Ein Rest von Melancholie durchweht die schmucklose Präsentation, die Bilder hinter dünnes Plexiglas genagelt, über dessen Ränder sie manchmal hervortreten. Eros und Spannung dieses Werks liegen in dem hier verhandelten Begehren, das zwischen Obsession und Tröstung liegt, lavierend zwischen dem Improvisierten und dem äußerst Konstruierten. Es überrascht nicht, dass Bilder aus dieser Gruppe, die erstmals 2003 in Colin de Lands Galerie American Fine Arts gezeigt wurde, regelmäßig auch in den späteren Arbeiten Daveys immer wieder auftauchen. Schließlich ist die Bildfolgen nicht nur ein Denkmal für die Einsamkeit, sondern auch der Beginn einer neuen Sichtweise, die den kritischen Punkt markiert, von dem an Daveys Arbeiten immer assoziativer und, was die Sujets betrifft, unkonventioneller wurden.

Die Auswahl und Anordnung ihrer Bilder zu Serien folgt nicht nur bei Einzelarbeiten einer rekombinatorischen Logik, sondern zeigt sich auch in der Choreografie ihrer Ausstellungen. Davey verwendet für neue Präsentationen oft Teile des alten Bildrepertoires, so wie ein Bücherliebhaber sein Bücherregal permanent umordnet oder ein Musikliebhaber seine Plattensammlung stetig erweitert. So hängt 2009 bei einer Ausstellung bei Murray Guy ein Triptychon von LPs in Regalen übereinander, während sie 2008 im Fogg Museum von links nach rechts laufen. Ähnlich hängen 2010 in der Ausstellung »Speaker Receiver« in der Kunsthalle Basel vergrößerte Abzüge aus »50 Photographs« in Serien von drei, vier und sieben Bildern horizontal. Wie bei Daveys zentralem Frühwerk »Copperheads« (1990), Vergrößerungen der fleckigen, zerkratzten, zerfurchten und verrosteten Stellen auf Abraham Lincolns Profil auf 99 amerikanischen Penny-Münzen, ermöglicht ihr Umgang mit Bildern, sie als ganze Serie (wie im Fogg Museum), als Raster oder auch nur in Auszügen auszustellen. Daveys Methode enthüllt nicht nur die Obsession der Sammlerin, Dinge umzuordnen, sondern auch ihre spezielle Sensibilität für Montage. So nutzte sie für die Ausstellung »My Necropolis« bei Murray Guy die intime Enge der Galerieräume, um das Publikum einzukreisen, während die hohen Räume der Kunsthalle Basel große Abstände zwischen den einzelnen Werken verlangten.

Doch Daveys Kunst erstreckt sich auch auf die Stadt, nicht in assoziativen Reihen, sondern mit einem typologischen Ansatz. Ihr Sucher erfasst nicht – wie die Bildobjekte der Interieurs – Platten aus Secondhand-Läden, vergriffene Taschenbücher oder leere Whiskyflaschen, vielmehr alltägliche Gesten und die Spuren der Warenzirkulation. In der Serie »Subway Writers« (2011) zum Beispiel hielt Davey heimlich Notizen kritzelnde, Textstellen unterstreichende oder Listen schreibende U-Bahnfahrer in New York – alle mit Stift in der Hand – fest, was ihre früheren »Newsstand«-Fotos aus dem Jahr 1994 in Erinnerung ruft. Die Allgegenwart von Bildschirmen wird ausgeklammert, Mobiltelefone, iPads oder E-Readers sind kaum zu sehen, stattdessen das Schreiben und Kritzeln mit dem Stift. Nicht »wuchernd« sondern im Raster angeordnet folgt Davey einem Verhalten und einer Kulturtechnik – die der Handschrift – mit einer Beharrlichkeit, die paradoxerweise deren schnelles Veraltern durchblicken lässt. Anders als beispielsweise die überschwänglichen Ansichten des Alltagslebens in Helen Levitts heimlich aufgenommenen Straßenfotos, halten Daveys Bilder konzentrierte, ephemere Augenblicke des Lebens der Stadt fest.
 

32 Photographs from Paris (details), 2009

Wie bei den Serien »9 Photographs from Paris« und »32 Photographs from Paris« (beide 2009) werden auch die jüngsten Rasterarbeiten Daveys gefaltet und per Post an die Galerien und Museen geschickt, in denen sie gezeigt werden. Mit ihren Falzen, Stempeln und Klebebandresten zeichnet Daveys Version von Mail Art den Prozess ihrer Verbreitung auf, der ihr die einzigartige Oberfläche von Artefakten und Objekten verleiht, die immer wieder neu arrangiert werden. Adressiert an jene Person, die das Werk wahrscheinlich in Empfang nehmen wird, wirkt das Nicht-Perfekte der Bilder den taxonomischen Implikationen des Rasters entgegen und zeigt zugleich die soziale Struktur der ausstellenden Institution. Das Falten, d. h. die Präsenz der Hand in den Bildern, gibt der Serie zusätzlich die Funktion einer Mitteilung, einer Sendung, die von einem Schreibtisch zum anderen geschickt wird. Nach konventionellen Standards werden die Bilder durch Daveys Geste geschwächt – man hantiert mit ihnen, fällt über sie her, macht sie einander gleich – selbst wenn sie zum Gegenstand einer gesteigerten Sensibilität und Aufmerksamkeit werden. Und genau deswegen kann Daveys Arbeit als Postskript einer Verliebten interpretiert werden, die sich von der leidenschaftlichen Intensität der Sammlerin entfernt und wie eine Sendung in Teilen funktioniert, die den bisher abwesenden und fehlenden Körper durch persönliche Adressierung und Identifikation zurückholt.

In »The Coffee Shop, The Library« (2011), einer Arbeit, die unlängst im MoMA in New York gezeigt wurde, verbindet Davey öffentliche Bereiche, in denen der Einsamkeit noch Raum geboten wird. Sie stellt die Ruhe des Lesens in einer Bibliothek der Zeit des Nachdenkens bei einer Tasse Kaffee gegenüber. In Daveys Stilllebenarrangements, die alle von oben aufgenommen sind und immer das gleiche zeigen (ein Espresso und ein Glas Wasser), wird das Café zu einem Ort, wo die Zeit komponiert – ein Tisch, kein Essen, kaum mehr. Es ist die Pause, bevor man zu seinen Forschungen zurückkehrt, die Zeit, in der man über Zusammenhänge nachdenkt, die jetzt vertieft werden müssen. Es ist die Zeit der Assoziationen. Die Erinnerung an den unscharfen Blick einer Kamera durch ein Restaurantfenster hinaus auf einen Mann mit einer Blume in der Hand – Saul Leiters »Flower (variant)« (1952) – kehrt zurück und verbindet sich mit dem Eindruck, den Bruce Davidsons Fotografie »The Dwarf« (1958) hinterlassen hat, die den Blick nach innen richtet, auf eine verlorene Figur, die allein in einem Café vor einem Strauß welker Blumen sitzt. Durch das zusätzliche Bild eines Schreibtischs mit Büroklammern, Stiften und Reißzwecken wird das einfallende Licht auf den Kaffeehaustischen zum reinen Ort, den Assoziationsschichten nachzusinnen und das Erinnern in visuelle Entsprechungen zu verwandeln – die Tafel der Erinnerung.

32 Photographs from Paris (details), 2009

Aus den tausenden Werken in der Bibliothek des MoMA wählt Davey die neutral gebundenen legendären Kunst- und Architekturzeitschriften »L’Oeil« und »Pencil Points« aus, nur um sie mit Bildern aus der Vergangenheit und ihren eigenen staubigen Bücherregalen zu konterkarieren. Mit einem Blick auf die Katalogkarte mit den Einträgen von Eugène Atget-Ankäufen durch das MoMA erinnert Davey an ihre eigenen Texte über Atget und dessen gespenstische Pointierung städtischer Leere. Zugleich würdigt Davey damit das Werk der amerikanischen Fotografin Berenice Abbott, die nach Atgets Tod dessen standhafte Fürsprecherin war, und deren Sammlung von Atget-Abzügen das MoMA 1968 erwarb. Der Klang von archivierter Zeit wird im Bild von einem Plattenspieler und Kassettendecks evoziert. Die Arbeit gerät langsam in die schwindelerregende Bewegung des kulturellen Gedächtnisses, in dem Details wieder auftauchen und nach neuen Bezügen suchen, Gelehrsamkeit materielle Formen annimmt und die Genauigkeit und Verletzlichkeit einer Sammlerin, die »studiert und liebt«, nötig ist. In der unteren linken Ecke des Rasters, gleich neben der Karteikarte zu Atgets »Masque Antique« findet man solch ein Detail aus dem Sammlerinnengedächtnis, eine Serviette mit den Initialen »PH MD JS ST CD« und Zahlen darunter. Dabei handelt es sich um ein Zeugnis für Colin de Lands Angewohnheit, Restaurantrechnungen auf Servietten auseinanderzudividieren. Diese Marotte wird hier zu einem Denkmal, weil die Initialen an de Land und seine Frau, die Galeristin Pat Hearn (»PH«) erinnern und »MD« und »JS« uns unter die Lebenden zurückbringen, Moyra Davey und den Künstler Jason Simon, ihren Ehemann (»ST« bleibt ein Geheimnis). Es ist diese Montage, das Verbinden des Persönlichen mit dem Institutionellen und Kunsthistorischen, das uns wieder zum Sehen anregt und an Roland Barthes’ späte Bemerkungen über die Möglichkeit des Archivs, zu neuem Leben erweckt zu werden, erinnert:

»Diese Bibliothek toter Autoren → das klingt düster, nostalgisch (≠ doxa: sich für die Gegenwart interessieren, die Toten ihre Toten begraben lassen usw.). Ich verstehe das nicht so: a) Kritische, schöpferische Distanz: Um mich lebhaft für meinen Zeitgenossen zu interessieren, kann es sein, dass ich den Umweg über den Tod (die Geschichte) brauche, Beispiel Michelet: absolut gegenwärtig in seinem Jahrhundert, aber seine Arbeit gilt dem »Leben« der Toten: Ich lasse die Toten in mir denken: Die Lebenden umgeben mich prägen mich, binden mich regelrecht ein in ein System von Resonanzen – mehr oder weniger bewusst, doch nur die Toten sich schöpferische Gegenstände = wir alle sind gefangen in »Moden«, die wohl nützlich sind; doch einzig der Tod ist schöpferisch.«2

Kommen wir auf ein Frühwerk Moyra Daveys mit dem plakativen Titel »Long Life Cool White« (1999) zurück. Der Titel stammt von den klein gedruckten Worten der Produktbezeichnung auf den abgenutzten Neonröhren im Vordergrund. Das Foto gewährt einen unscharfen Blick in einen Raum voller Bücher und Aktenordner. An der Wand hängt ein Stadtplan, unvermeidbar erkennt man das Objektiv einer Großformatkamera knapp hinter der Fokusebene. Das Bild ist eine Allegorie auf eben jenen Umweg, den Barthes meint. Es handelt sich um den Ort einer zukünftigen Handlung – Lichter werden angehen, die Kamera wartet schon, Reisen in die Stadt werden angetreten, Papier gefaltet, Bilder nochmals betrachtet, neu interpretiert. Die Zeit des Ateliers ist eingefangen. Der technische Hinweis »Long Life Cool White« wird so zu der Zeile eines Gedichts, die mit dem Lichtschein kommuniziert, der die linke untere Ecke des Bildes erfasst. Er sagt uns, dass dies ein Raum ist, der atmet, ein Raum, in den man zurückkehrt, ein Raum der Visionen, ein Raum voll zukünftiger Erinnerung.

 


FIONN MEADE ist Kurator und Autor. Er lebt in New York. 


MOYRA DAVEY, geboren 1958 in Kanada. Lebt in New York. Letzte Einzelausstellungen u. a. greengrassi, London (2011); Speaker Receiver, Kunsthalle Basel (2010); My Necropolis, Murray Guy, New York (2009); Long Life Cool White, The Fogg Art Museum, Harvard University, Cambridge, MA (2008). Letzte Ausstellungsbeteiligungen u. a. New Photography 2011, MoMA, New York; After The Gold Rush, Metropolitan Museum of Art, New York(2011); Atlas, Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofia, Madrid; Sound and Vision, The Art Institute of Chicago (2010); LʼArgent, Le Plateau, Ile-de-France, Paris (2008); Calendar of flowers, gin bottles, steak bones, Orchard, New York (2007). 

Vertreten von Greengrassi, London; Murray Guy, New York; Goodwater Gallery, Toronto

Subway Writers, 2011