
Zustand kritisch
Occupy Wall Street wurde von Mainstream-Medien und Politikern zunächst höhnisch belächelt; als eine unausgegorene, schlecht geplante Aktion abgetan, ein Anfall von Wut, der bald wieder verfliegen würde. Doch im Augenblick sieht es danach aus, als würde OWS immer mehr Anhänger gewinnen. Adam E. Mendelsohn spricht über die »Bürgerbewegung« und bittet Freunde und Kollegen aus verschiedenen Bereichen des Kunstbetriebs dazu Stellung zu nehmen.
Nur eine Woche vor dem 17. September 2011, dem Datum der offiziellen Besetzung des Zuccotti-Parks in Lower Manhattan, schrieb ich an einen Freund: »Warum gehen die Leute nicht auf die Straße!?« Noch begreifen viele nicht, dass es sich bei OWS (und dem October 2011 Movement) um einen legitimen, wohlüberlegten und gut organisierten Protest handelt, der meines Erachtens nur noch stärker werden kann. Mitten in den Vorwahlen der Republikaner haben die Spitzenkandidaten Mitt Romney und Herman Cain bereits ihre Stellungnahme dazu in nur zwei Wochen von »Sucht euch Arbeit!« auf »Wir verstehen ihre Frustration« geändert und damit zuzugeben, dass die Proteste nicht so schnell aufhören werden. Nach mittlerweile rund drei Monaten ist nun klar, dass OWS ein ernstzunehmender und innovativer Nachkomme der großen Tradition gewaltfreier amerikanischer Protestbewegungen ist. Nicht nur, weil Noam Chomsky, Susan Sarandon, Slavoj Žižek, Bill Clinton, Joan Baez, Russell Simmons, Bill Maher, Pete Seeger, Crosby & Nash (die ein Konzert gaben) und Stephen Colbert die Bewegung öffentlich unterstützt haben. Sondern weil sie wirklich eine Kraft hat, man möchte fast sagen: jugendliche Kraft. Menschen (nicht nur Twenty-Somethings) aus dem ganzen Land haben sogar ihre Jobs aufgegeben, um sich den Protestierenden in New York anzuschließen. Bislang hat es bei OWS erstaunlich wenig Gewalt gegeben (sie haben ihr eigenes internes Sicherheitssystem) und bis auf ein paar kleine Zwischenfälle ist auch kein öffentliches Eigentum beschädigt worden. Die Organisation ist entgegen dem Anschein geschickt und kompetent. Jeder, der einigermaßen objektiv ist und über einen gewissen historischen Horizont verfügt, wird zugeben müssen, dass es ihr im Moment gut gelingt, das Ganze friedlich zu halten.
Eine der größten Klagen derer, die im und um den Zucotti-Park ihren Geschäften nachgehen, ist die über den Gestank, und es stimmt ja auch, es gibt in der Gegend – wie in Lower Manhattan überhaupt – nur äußerst wenige öffentliche Toiletten. Das ist einer der entscheidenden Fak- toren der Besetzung – sie ist in erster Linie ein Affront gegen das Alltagsleben (als würde New York nicht ohne- hin schlimm genug riechen) und ein Anschlag auf die Sinne. Wer die Protestierenden nur für »stinkende Hip pies« hält, wird sich entweder schneller vergessen und sei- nen Aggressionen Luft machen, oder schneller nachgeben, und sei es nur, um endlich die »ekelig aussehenden, stinkenden Loser« – wie sich ein Prominenter ausdrückte – loszuwerden. Dass es bisher keine offiziellen Anführer und keine konkreten Forderungen gibt, ist strategisch brillant. Wenn die öffentliche Unterstützung auf der einen und die »Unannehmlichkeiten« auf der anderen Seite groß genug werden (und ich glaube, das wird in einem so auf Annehmlichkeiten erpichten Land wie Amerika geschehen), wird OWS – jedenfalls theoretisch – einen ausreichend langen Hebel besitzen, um erfolgreich verhandeln zu können. Entscheidend ist auch, dass die Bewegung bislang noch nicht von der Wirtschaft oder Parteipolitik – auch nicht von den Demokraten – vereinnahmt wurde (obwohl das Rocawear-Label von Rappermogul Jay-Z geschmackloserweise T-Shirts mit dem Slogan »Occupy All Streets« verkauft). Der Befund, dass es sich bei OWS um eine von der demokratischen Partei getragene Bewegung handelt, ist falsch, und sie passt auch nicht wirklich in irgendeine sozialistische oder kommunistische Protesttradition.

Warum tun die Menschen das? Die einfache Antwort lautet, dass sich die gesamte Nation schlicht betrogen und beraubt fühlt – es ist fast eine biologische Reaktion. Niemand will die Börsengeschäfte abschaffen oder die Regierung stürzen, die Leute wollen nur, dass beides ordentlich funktioniert und strengere ethische Maßstäbe angelegt werden. Meiner Ansicht nach geht es ihnen darum, dass jemand verantwortlich gemacht wird, und dass die Verbrecher, die bewusst bestimmte Finanzmärkte sabotiert haben, strafrechtlich verfolgt werden. Sie verlangen, dass Obama seine Vorwahlversprechungen einlöst und die Regierung effektiv arbeitet und nicht ein von der Wirtschaft kontrolliertes, lobbyistisches Washingtoner Spiegelkabinett herrscht. Wir wissen alle, dass die ökonomische Situation äußerst komplex ist (die Ökonomie ist an die Stelle der Philosophie getreten), wenn auch nur wenige wirklich zu erklären vermögen, was schiefläuft, was schiefgelaufen ist oder schiefzulaufen droht, und die meisten nicht die Zeit haben, sich sechs Monate mit den verwirrend komplexen Gründen dafür zu beschäftigen. Unterdessen scheint der Kongress bewusst die – übrigens seltsam verspätete – Frage zu diskutieren, ob der Slogan »In God We Trust« auf US-amerikanischen Zahlungsmitteln beibehalten werden soll. Statt die Hände in den Schoß zu legen, tun die Menschen wenigstens etwas. Das ist gesund.
Im Augenblick ist es für Beobachter von außen wichtig, die von den Mainstream-Medien verbreiteten Bilder und Reportagen über die Demonstranten richtig zu dekodieren. Nur wenige Medien-Netzwerke bieten eine ausgewogene audiovisuelle Berichterstattung, und rechte Mediengiganten wie Fox News versuchen, ihren Zuschauern immer noch die Mähr aufzutischen, es ginge um »Hippies gegen Hackler«, wie es während der Vietnamkriegsproteste der 60er Jahre der Fall war (und letztlich zur Beendigung des Krieges beitrug). Derzeit sind auf vielen Bildern »Hackler« und »Hippies« oder »Hipster« Seite an Seite zu sehen, sodass derlei Teile-und-Herrsche-Berichterstattung diesmal mit Sicherheit nicht aufgehen wird.
Der Kunstbetrieb hat eher lustlos, kleinlaut und zahm reagiert. Es scheint fast, als wäre es ihm peinlich – eine interessante, wenn auch etwas verstörende Selbsttäuschung. Kommerziell gesehen hat ihn das Ganze kaum berührt. Die letzten Auktionen waren keine totale Katastrophe (obwohl die Verkäufe von Nachkriegskunst bei Sotheby’s und Christie’s deutlich schwächer ausfielen, während OWS-Leute mit einer Blaskapelle vor ihren Manhattener Hauptquartieren auf- und abmarschierten), die Messen laufen offenbar blendend, die Performa 11 macht sich prächtig und zahllose Galerien erfreuen sich gut besuchter Herbsteröffnungen. Viele Künstler, die ich um Stellungnahmen bat, lehnten diese einfach ab, weil sie entweder »zu viel zu tun« hatten oder befürchteten, potenzielle Kunden zu verärgern. Ich finde das schlimm. Eine Art postmoderner McCarthyismus, den man sich vielleicht von 80% der Galeristen erwarten würde, aber von den Künstlern? Da es sich jedoch bei den meisten großen amerikanischen Institutionen (Museen, Universitäten) um von der Privatwirtschaft unterstützte Unternehmen handelt, haben wohl viele das Gefühl, es sei am besten zu schweigen. Dabei könnte man sich zum Beispiel gut für die Museen stark machen, deren dringend benötigte Regierungsmittel für die Erhaltung nationaler Kulturschätze auf Banken umgeleitet wurden. Was kann diesem Land meiner Meinung nach noch helfen? Sich erneuern oder untergehen.
Aus dem Amerikanischen von Wilfried Prantner
OCCUPYWALLST.ORG
OCTOBER2011.ORG
ADAM E. MENDELSOHN ist Künstler und Kritiker, derzeit ohne feste Adresse.
Bildbeitrag von CHRISTINE WÜRMELL.








MARTHA ROSLER (Künstlerin, Aktivistin)
Die amerikanische »Tea Party« Bewegung, unter falscher Flagge, erfreute die Medien; über ihre Agitationen wurde penibel berichtet. Im darauffolgenden Jahr entfachte im Maghreb ein politischer Flächenbrand und die Art des Protests nahm neue Formen an. Der Tahri Platz schreibt an Occupy Wall Street: »Eine ganze Generation quer über den Globus ist erwachsen geworden und hat rational wie emotional erkannt, dass es in der gegenwärtigen Ordnung der Dinge keine Zukunft für sie gibt ... wir stehen euch bei, nicht nur bei euren Versuchen, das Alte zu Fall zu bringen, sondern auch mit dem Neuen zu experimentieren.« Wir protestieren nicht ... wir besetzen. Wir fordern genau die Bereiche des öffentlichen Raums zurück, die ökonomisiert und privatisiert wurden und fest in den Händen einer gesichtslosen Bürokratie, Immobilienentwicklern und dem Polizei»schutz« liegen. Haltet an diesen Räumen fest, pflegt sie und dehnt die Grenzen eurer Besetzungen immer weiter aus.
Das erste Ziel jeder Besetzung ist die raum-zeitliche Sichtbarkeit. Die Programme und Plattformen werden mit der Zeit ausgearbeitet werden, mit weit mehr Autonomie als die Tea Party – aber nicht in Opposition zu deren Protesten gegen den Zwei-Parteien-Verrat. Als Künstlerin, der von der Stadtplanung nur die Rolle der Gentrifiziererin für die Reichen zugedacht wird, sehe ich OWS als den Beginn des Konflikts zwischen den »Kreativen« und der Stadt, die sie für ihre Zwecke einsetzt.
DAVID COHEN (Kritiker)
Auch auf die Gefahr hin, dass ich mir den Zorn beider Seiten, Künstler und Protestierer zuziehe, erlaube ich mir, zu behaupten, dass OWS eine Show ist – die sie letzten Endes auch ist – und sie hier zu reviewen.Zunächst muss man sagen, dass der visuelle Eindruck der Proteste ziemlich dürftig ist. Natürlich findet man eine Arte-Povera-Ästhetik in einer Art improvisiertem Campingplatz-Crunch. Die Adjustierung der Besetzer ist vorhersehbar, aber andererseits: Wie kleidet man sich für eine Revolution? Es scheint, als wäre das Paris von 1968 das Paradigma. Abgesehen von den Mobiltelefonen und den sportlichen Tattoos der Jüngeren und anarchistischeren Teilnehmer unterscheiden sich der durchschnittliche Protestierer von 2011 in New York und der durchschnittliche Pariser von 1968 nur wenig. Außer, dass letzterer generell modischer war – Lederjacken usw. – wobei man fairerweise sagen muss, dass diese »Ereignisse« im Sommer und nicht im Herbst stattfanden. Man sollte im Vergleich dazu berücksichtigen, wie sehr sich die 68er von den links- gerichteten Protestieren eine Dekade davor unterschieden. Die Kommunisten in Frankreich waren stolz auf ihre Führer, die ihre beste Sonntagskleidung trugen, im Unter- schied zu den Trotzkisten (auch wenn Leo immer schick 101 angezogen war) und der neuen Linken.
Den Zuccotti Platz zu besuchen, bedeutet harte Arbeit für das Auge. Die Protestierer tragen oft Plakate mit Text, der sowohl im wörtlichen als auch im grafischen Sinne zu dicht ist: Aus der Perspektive des Grafikdesigns sind die meisten Plakate ein Desaster: kleine Buchstaben, handgeschrieben und herum- hüpfend wie Kleinkinder, als ob sie das Bild des Aktivisten buchstäblich umsetzten. Die Texte entfalten Narration und Ironie, die sich gegen eine konzeptuelle Gestalt aus- sprechen. Es gibt selbstverständlich auch kunstvolle, nachdenkliche und geistreiche Slogans, die still gehalten wurden und in Blockbuchstaben geschrieben waren: »KEEP YOUR COINS I WANT CHANGE« war ein bemerkenswerter. Und ein Typ hatte sich wirklich bemüht, indem er ein mit Konzern-Logos dekoriertes Nadelstreifsakko trug und als Senator Ebenezer de Monet auftrat, ein Wortspiel, das leider einer Erklärung bedurfte. Aber zuviele gut designte Plakate wären wiederum ein Zeichen von etwas gänzlich Deplatziertem in der gemeinschaftlichen Führung und Intention von OWS gewesen. Nach denselben Regeln wie die Werbeindustrie zu spielen, käme einer Niederlage gegenkultureller Werte gleich. Außer dem goldenen Kalb, das irgendwann von Geistlichen durch die Menge getragen wurde, haben die Proteste keine Freiheitsstatuen-Ikone analog zum Tiananmen Platz hervorgebracht. Spiegelt das vielleicht den Umstand wider, dass Zuccotti dank Sponsoring bereits eine hat, Mark di Suveros »Joi de Vivre«, eine seiner typisch überbordenden, leuchtend roten Stahlträgerskulpturen? Es liegt etwas Ironisches und Tristes im neugefundenen Kontext der Skulptur. Hier ist ein Kunstwerk, das sich direkt aus dem Russischen Konstruktivismus ableitet und einen öffentlichen Park inmitten des globalen Finanzsystems schmückt und scheinbar mit Gleichgültigkeit von den Erben der Revolution wahrgenommen wird, die die kulturellen Referenzen für die Skulptur lieferte.
SUSAN UND MICHAEL HORT (Sammler)
Wir unterstützen die Proteste. Etwas muss gegen die Steuer- und Einkommensungleichheiten unternommen werden. Der Finanzsektor kämpft noch immer gegen gesetzliche Regulierung, damit sie einen gigantischen Profit erwirtschaften können, indem sie sich Geld von der Nationalbank zu weniger als 1% ausleihen. Anstatt es an verdienstvolle Unternehmen und Individuen zu vergeben, verborgen sie es dann an die italienische und griechische Regierung, wissend, dass sie aus der Bredouille geholt werden, sobald sie in Schwierigkeiten geraten.
MICHAEL WETZEL (Künstler)
Es geht wirklich um den Zeitpunkt, denn der Klassenkampf läuft seit den 80ern, seit Reagan. Warum sollte man sonst die Sozialversicherung abschaffen, wenn nicht mit dem Ziel, die Mittelklasse auszuschalten? Die 1% hatten einen langen mühelosen Lauf. Zum Glück gibt es dort oben genug vernünftig denkende Individuen, die an nachhaltiger Demokratie interessiert sind. Auf beiden Seiten stehen genug Leute, die wissen, dass wenn nicht genug Brot im Umlauf ist, die Menge im Zirkus wütend wird, hungrig und wütend. Historisch gesehen wurden die Menschen bereits sehr wütend, und daran verdient niemand ein Geld. OWS scheint mit gutem Grund auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, die hoffentlich zu positiven Effekten in der Regierung führen wird und das Steuersystem, die Energiepolitik und die Einwanderungspolitik usw. verändert. Wer weiß, vielleicht können wir das Ende der calvinistischen Zweiklassen-Kolonial-Mentalität hinter uns lassen (in Wahrheit loyalistisch, weil anti-demokratisch) und endlich vorankommen. Es wäre schön zu sehen, wie sie das Geld nehmen und ausnahmsweise mal direkt ins Gefängnis wandern.
FELIX GMELIN (Künstler)
Zurückblicken bedeutet nicht notwendigerweise Nostalgie. Es kann auch bedeuten, dass man vergangene Zukunftsvisionen entdeckt, derer sich der »Fortschritt« entledigt hat. Es gibt diese wunderschöne Theorie, die von der deutschen Kunsthistorikerin Inke Arns »Retro-Utopismus« genannt wird. Darin spricht sie über Künstler, haupt- sächlich aus Osteuropa, die ihre Aufmerksamkeit darauf lenken, was von einem Zustand des Möglichen übrig geblieben ist. Durch ihr Interesse können diese Künstler als Teil einer »Politik der Hoffnung« für die Zukunft gesehen werden.
Zufällig war ich im Mai diesen Jahres am Plaza del Sol in Madrid, wo mir die M15 als eine Bewegung auffiel, die Inkes Ideen in die Praxis umsetzen könnte. Ich war von ihrem Geschichtsbewusstsein beeindruckt und wie sie darauf hinarbeiteten, die potenziell totalitären Irrtümer der früheren Avantgarde-Bewegungen zu vermeiden. Ich verstand auch, dass im Gegensatz zu der Behauptung in Francis Fukuyamas Essay »Das Ende der Geschichte« die Hoffnungen auf alternative Gesellschaftsmodelle zum Kapitalismus weit davon entfernt sind, vorbei zu sein. Wir sollten seinen Text neu schreiben, damit er den aktuellen politischen Entwicklungen entspricht. Vielleicht gibt es jetzt, wo sich der Turbo-Kapitalismus im freien Fall zu befinden scheint, den nötigen politischen Ansporn für einen wirklichen Wechsel. Einen Anreiz, den es offensichtlich nicht gab, als die 68er-Studentenbewegung vor fast einem halben Jahrhundert auf die politischen Realitäten des Kalten Krieges traf.
Wenn der spanische Schriftsteller und Ökonom José Luis Sampedro Sáez meint, dass sich dieses System auflöst und korrumpiert ist und wirklich zusammenbricht – sodass der Wechsel nicht verhindert werden kann – dann glaube ich ihm!
Aus dem Englischen von Stefan Tasch