JK

Portrait Ei Arakawa

No. 21 / Herbst 2009

Ei Arakawa & andere

Wie sieht Performance ohne Blick auf medienwirksame und markttaugliche Zweitverwertung aus? Ohne Pathos und Selbstentblößung? Ist es möglich, Wissen in Bewegung und Körperlichkeit zu übersetzen? DANIEL BAUMANN über EI ARAKAWA und den anarchistischen Versuch, ein Bild des heutigen Lebens jenseits von Abbild und Repräsentation zu entwerfen.

Folgende Überlegung: Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre findet in der Kunst die große Verschiebung vom Gedanken zum Objekt statt. Sie hält bis heute an und hat mit der aktuellen Finanzkrise einen kleinen Rückschlag erlitten. Diese Verschiebung war Ausdruck und Folge eines wirtschaftlichen Aufschwungs und einer parallel verlaufenden Abschwächung der Ideologien, die die Nachkriegsordnung bestimmten. Im vielseitigen Reden und Publizieren über die Postmoderne und die Allverfügbarkeit des Historischen fand sie ihren ersten Höhepunkt und nahm im Alltag die Form eines vom Gefühl des »Anything goes« getragenen Hedonismus an. Plötzlich schien die Geschichte auf neue Art verfüg- und verhandelbar, und die erste Nachkriegsgeneration begann, Deutungs- und Wirtschaftsmacht für sich zu reklamieren. Wilde Malerei und Neo Geo trieben den Markt an, Joseph Beuys, der Priester des anderen Kapitals, starb 1986 und die Wall Street erlebte im Oktober 1987 den großen Crash. Dazu kam die Kritik von innen, die Kritik an der Konzeptkunst, ihrer Vorherrschaft und ihren Grenzen. Noch heute liest sich diesbezüglich Jeff Walls 1985 veröffentliche Analyse und Abrechnung mit der Konzeptkunst wie ein Krimi, denkt man etwa an Formulierungen wie: »Was an der Konzeptkunst einzigartig ist, ist daher ihre Neuerfindung des Defätismus, der Indifferenz, die der puristischen und formalistischen Kunst immer implizit ist.« Sein zweiteiliger Artikel erschien im amerikanischen Real Life Magazine, welches die Picture Generation aus nächster Nähe begleitete, diskutierte und dokumentierte.* Gerade ihre Arbeiten können als Versuch verstanden werden, beide Sphären in unauflösbare Spannung zu setzen, das heißt die Welt des Konzepts und der Dematerialisierung mit jener des machtvollen und verführerischen Objekts. 

Die einzige Kunstpraxis, die dem Fluch des Objekts entgehen hätte können, wäre die Performance gewesen: ihr Geschäft ist bis heute die ephemere Übersetzung von Gedanken in Körper, Zeit und Raum. Das Problem war aber, dass sie im Pathos der Selbstentblößung gefangen war und sich in den 90er Jahren primär damit beschäftigte, diese Sprache ins Medium Video zu übersetzen, um sie zu verfestigen und markttauglich zu machen. Und dann ergeben sich diese Überraschungen. 2005 bat ich Emily Sundblad bzw. Reena Spaulings um einen Beitrag für »Wednesday Calls the Future«, einer Ausstellung in Tbilisi, Georgien. Sie mailte mir ein Szenario für eine Performance, deren Uraufführung unter dem Titel »Grand Openings« im November anlässlich des Festivals Performa05 in New York vorgesehen war und von Ei Arakawa, Jutta Koether und Emily Sundblad gemeinsam entwickelt wurde. Wir setzten es sozusagen als Vor-Premiere in Georgien in Szene. Jeder übernahm eine Rolle, Mai-Thu Perret war zum Beispiel Jutta Koether, wenn ich mich richtig erinnere. Solche detaillierten Angaben scheinen überflüssig und anekdotisch, sind es aber nicht, weil sie klar machen, dass »Grand Openings« mit der Vorstellung von Performance als Entblößung eines Ichs bzw. einer Ich-Figur brach. »Grand Openings« trat als etwas auf, was jeder machen konnte. Das war aber nicht alles, denn das wirklich Überraschende war die Performance selbst, die mich dazu brachte, Performance als ein Medium jenseits von Pathos und Peinlichkeit wahrzunehmen: das Szenario war total unverständlich, die einzelnen Teile hatten keinen Zusammenhang, es schien sich um eine grundlose Aufreihung von Momenten zu handeln, jegliche Sinnproduktion wurde dem Publikum zugeschoben und weit und breit kein Ich. Es gab nur Präsentation, jedoch keine Repräsentation, wie die georgische Kunsthistorikerin Nana Kipiani nebenbei bemerkte. 

Der in New York lebende, japanische Künstler Ei Arakawa wird oft mit dem »Grand Openings«-Projekt assoziiert. Dabei handelt es sich in seinem Schaffen um ein Ausnahmeprojekt, weil es von einer festen Crew entwickelt wird, aber auf einen gemeinsamen Ausgangspunkt oder eine bestimmte Zielvorgabe verzichtet. Bei allen anderen Performanceprojekten Arakawas steht am Anfang ein Interesse für etwas, das einen Moment der Identifikation in ihm auslöst. Dieser zieht eine Vertiefung nach sich und den Versuch, das angeeignete Material zu übersetzen und näher an Körper und Bewegung zu bringen, um ihm eine eigene Körperlichkeit zu geben. 

Drei Beispiele. »Don’t Think About Me, I’m Alright« fand 2004 in der New Yorker Greene Naftali Gallery gemeinsam mit Patricia Cazorla, Kimiko Fukuoka, Michiko Hoshi, Miki Ikeda, Mari Mukai, Etsuko Noda, Hisayasu Takashio und Maki Waza statt. Am Anfang des Projekts stand das Interesse für die Identität des japanischen Künstlers On Kawara und dessen Beschäftigung mit Esperanto: »Ich war davon fasziniert, zu erfahren, woher er kommt und dass er Esperanto kann, und versuchte dann eine Performance daraus zu machen, nicht um das zu illustrieren, sondern um es körperlich präsent zu machen. Für mich ist On Kawara ein Produkt der japanischen Nachkriegserziehung, die sich sehr schnell von einem extremen Nationalismus hin zu einem Liberalismus wandelte. On Kawara war auch Teil einer Esperanto Gruppe. Ich schrieb einen Aufsatz und machte eine 13minütige Videoarbeit darüber. Der Text läuft im Film als englischer Untertitel und zugleich hört man eine chinesische Stimme, gesprochen von einem Amerikaner. Das Video war größtenteils eine Diashow, die verschiedene meiner Performances dokumentierte, und mich auch dabei zeigte, wie ich ein Fake-On Kawara Bild male, während ich in einem Flugzeug sitze. Auf dem Bild stand »Duty Free« in Esperanto (obwohl ich es falsch schrieb), und man hört den Flugzeuglärm und die Flugbegleiter »Duty Free«, »Duty Free« sagen. On Kawara ist nämlich ein Duty Free-Künstler für mich. Das Video wurde für eine Kunsthistorikertagung gemacht, wo es in einer Pause lief.« 

Eine ältere Fassung davon wurde während der neunstündigen Performance bei Greene Naftali gezeigt. Arakawa besuchte zu dieser Zeit eine altmodische Kunstschule in New York, um ein Visa für die USA zu erhalten. Für die Performance lud er acht seiner Mitstudenten ein, Bilder On Kawaras zu fälschen, zu zerstören und zu einer Art konstruktivistischen Struktur zusammenzuschrauben. Ein Kopiergerät in der Galerie druckte Interviews aus, die Arakawa zuvor mit den Studenten geführt hatte und in denen sie sehr persönlich über ihr Leben Auskunft gaben. Die Performance war nach diesen Interviews strukturiert, während die kopierten Seiten zu Heften zusammengebunden unter den Besuchern verteilt wurden. 

2005 organisierte Arakawa als Student am Bard College das Projekt »Riot the Bar«. Es handelte sich um eine achttägige Performance, deren Ausgangspunkt ein Besuch von Stonewall war, jener New Yorker Gay Bar, in der 1969 der Aufstand gegen einen homophoben Polizeieinsatz ihren Anfang nahm, an den seither der Christopher Street Day erinnert. Heute ist Stonewall zu einem, wie Arakawa es ausdrückt, »touristischen Ort der offiziellen Schwulenszene geworden, weshalb sie ein zweites Lokal eröffnet haben, das Stonewall Bistro«. Diese Veränderung dokumentierte Arakawa für »Riot the Bar« in einer Broschüre, die auch das Programm für die acht Tage enthielt. Er zimmerte aus einfachen Mitteln eine Bar zusammen, in der jeden Abend ein Vortrag stattfand, Djs auftraten und Drinks wie Buttery Nipple, Sour Apple Martini oder Blow Job serviert wurden. Am ersten Abend sprach beispielsweise der Künstler Thomas Lanigan-Schmidt, der 1969 aktiv dabei war, über seine Erfahrungen von damals. Im Außenbereich des Bard College installierte Arakawa Porträts von Felix Gonzalez-Torres, David Wojnarowicz und Ana Mendieta, die für ihn und für dieses Projekt die drei anerkannten Identity-Politics-Künstler repräsentierten. Jeden Abend listete er seine Einnahmen auf, und wenn sich die Summe gegenüber dem Vorabend erhöhte, fügte er neue Porträts der drei Künstler hinzu, so dass am Ende ein ganzes Feld mit ihren Gesichtern zu sehen war. Zum Schluss der Performance wurde die Bar in einer Auktion für $150 oder $200 verkauft, wobei sie dann beim Transport völlig in Brüche ging. Zwei Jahre später realisierte Arakawa »Riot the Bar« in der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK) in Berlin ein zweites Mal als »Riot the 8 Bar«, wozu er unter anderen Bill Dietz, Sebastian Biskup, Andrew Smith, Nick Mauss, Ken Okiishi, Nora Schultz und Josef Strau einlud. »In Berlin zerstörten wir die Bar jede Nacht. Sie bestand aus verschiedensten Materialien und Sockel, die herumstanden. Jeden Tag installierten wir sie in einem anderen Raum neu, sogar im Freien, als gerade die Kreuzberger Gay Parade stattfand. Es gab keine Porträts wie im Bard College, aber ich informierte die Leute wieder über meine Einnahmen.« 

Ausgangspunkt für »Most Anarchic Voice Over Ever (M.A.V.O.E.)«, der Performance, die im September 2009 im Basler Ausstellungsraum New Jerseyy stattfand, ist einerseits die im Westen wenig bekannte japanische Performancegruppe Jikken Kobo (»Experimenteller Workshop«), andererseits Mavo, eine Avantgardegruppierung um Murayama Tomoyoshi (1901–1977), die von 1923 bis 1925 aktiv war. Jikken Kobo begann 1951 mit ihren Aktionen, das heißt drei Jahre vor der Gutai Gruppe, die im Westen als Begründerin der japanischen Performancekunst gilt.** Von Beginn an ging es dem Kollektiv um eine medienübergreifende Kunstpraxis jenseits aller künstlerischen und gesellschaftlichen Klassifizierungen, um eine Kunst, die über die Kunst hinausging, die außerhalb des Museumsraumes statt fand, sozial relevant war und sich in enger Berührung mit dem Alltagsleben entwickelte. Das Kollektiv verweigerte die Konstruktion einer klaren Identität. Da sie kein Manifest verfasste, an keinem Ort verankert war, keine Werke hinterließ und die Aktionen kaum dokumentiert wurden, geriet Jikken Kobo in Vergessenheit. Jikken Kobo lehnte wie schon Mavo das fest etablierte japanische Kunstsystem westlicher Prägung (»gadan«) ab. Mavo entwickelte den sogenannten Conscious Constructivism mit dem Ziel, ein Bild des modernen Lebens zu entwerfen, das sich jenseits von Abbild und Repräsentation entwickelte, dafür aber in großer Nähe zum Alltag. Zwei Jahre lang zelebrierten die Mavoisten eine umfassende anarchistische Ästhetik mit Bühnenbildern, Aufführungen, akrobatischen Performances, Architekturmodellen, Ausstellungen, Tanz, Büchern, Zeitschriften, Wanddekorationen, Skulpturen und Strukturen. Nach ihrer Auflösung radikalisierte sich Murayama, er wurde Mitglied der Japanischen Kommunistischen Partei, kämpfte gegen Zensur und japanischen Militarismus und geriet dafür wiederholt in Haft. Seine Ideen eines anderen Theaters verfolgte er weiter und entwarf etwa die Umschläge für die japanische Theaterzeitschrift La Teatro, die bis heute erscheint. 


Die Geschichte von Jikken Kobo und Mavo liest sich bis zu einem gewissen Grad wie ein Porträt von Arakawas Arbeit. Diese zeichnet sich zuerst einmal dadurch aus, dass sie verwirrend ist und scheinbar formlos, was immer wieder zu Ablehnung führt und den Eindruck von Langeweile hervorruft. In einem weiteren Kontext ist sie Teil jener Entwicklungen und Experimente, an denen zahlreiche andere Künstler arbeiten: der Versuch, mit den Mitteln der Kunst zu einer anderen Form von Geschichtsschreibung und Selbstverortung zu gelangen. Dabei wird Interesse für Geschichte und subjektive Erfahrung in immer neuen Konstellationen zu Kunstobjekten geformt, die gleichzeitig Autonomie, historisches Bewusstsein und das Bekenntnis zu ihrer Zufälligkeit in Szene setzen. Dabei steht man als Rezipient oft vor dem Problem, dass die Auseinandersetzung mit Geschichte auf bescheidenem Niveau verläuft, und dass diese Beschränktheit durch virtuose Gestaltung wettgemacht werden soll. Die Ausdehnung des Kunstmarktes hat viel Platz gemacht für große Mengen solcher Kunstobjekte, die alle von ihrer Tragweite überzeugt sind und in ihren abgeklärtesten und langweiligsten Varianten nichts anderes zelebrieren als die eigene Leere. So stehen wir heute vor den Objekten, nach denen wir gerufen haben, weil wir genug hatten von den Gedanken und ihren Illusionen. Und nun fragen wir uns, wo die Gedanken hin sind und wie sie sich jenseits von Konzeptkunst, Esoterik, Idealismus und Marktzynismus materialisieren lassen. Aus diesem Grund interessiert mich Arakawas Vorgehen, obschon ich längst nicht immer alles verstehe und mir nicht sicher bin, ob die Übersetzung von Wissen in Körperlichkeit (physicality) und Bewegung tatsächlich funktioniert. Die Vorstellung aber, die Behauptung und den Versuch will ich mitverfolgen, denn jenseits von Gelingen oder Scheitern stehen diese Performances für Unabhängigkeit vom Terror des Objekts, für Freiheit und hoffentlich für Anarchie.



DANIEL BAUMANN ist freier Kritiker und Kurator. Er lebt in Basel, wo er gemeinsam mit Tobias Madison, Emanuel Rossetti und Dan Solbach den Ausstellungsraum New Jersey betreibt.

EI ARAKAWA, geboren 1977 in Fukushima, Japan. Lebt in New York. Letzte Projekte u. a. Non-solo show, Non-group show (mit Nikolas Gambaroff, Nick Maus und Nora Schultz), Kunsthalle Zürich; Künstlerhaus Stuttgart; Sculpture Center, (Grand Openings), NY; New Jerseyy, Basel; Liaison, a Naïve Pacifist, Taka Ishii Gallery, Kyoto (2009); Non-solo show, Non-group show (mit Henning Bohl und Nora Schultz), Franco Soffiantino Arte Contemporanea, Turin (2008). Letzte Ausstellungsbeteiligungen u. a. Autocenter (mit Nora Schultz), Berlin; Bulletinboard Blvd., Pro Choice (mit Patrick Price), Wien (2 00 9); TBILISI 5. Wednesday was Thursday (mit Sergei Tcherepnin, Gela Patashuri, und Daniel Baumann), Tbilisi, Georgien; Yokohama Triennale 2008, Kanagawa, Japan; The Altoids Award 2008, New Museum, NY; Front Room at Contemporary Art Museum, St. Louis, USA, Nichts IST AUFREGEND. Nichts IST SEXY. Nichts IST NICHT PEINLICH, MUMOK, (Grand Openings), Wien (2008); Performa07, NY; Syntropia, NGBK Neue Gesellschaft für Bildende Kunst, Berlin (2007). 


Vertreten von Reena Spaulings Fine Art, New York; Taka Ishii Gallery, Tokio, Kyoto