Altermodernität
Nach »Relational Aesthetics« und »Postproduction« arbeitet NICOLAS BOURRIAUD an seinem neuen Buch »Radicant«. RITA VITORELLI stellt ihm einige Fragen zu seinen zentralen Themen. Ein E-Mail-Interview.
Rita Vitorelli: Das Konzept der Moderne geistert nach wie vor durch die bildende Kunst und die Kultur allgemein. Das ist auch eine der Fragestellungen der kommenden documenta 12. Du arbeitest an einem anderen Begriff: dem der Altermodernität. Worin unterscheidet sie sich von Moderne und Postmoderne?
Nicolas Bourriaud: Die documenta 2007 scheint die Frage zu stellen, ob die Moderne als »unsere Antike« aufzufassen sei, das heißt als ein Modell, das es zu kopieren gilt, um durch den Abstand, der uns von ihr trennt, ein neues Paradigma zu schaffen. »Antike« ist also der mythische Bezugspunkt, von dem aus eine Renaissance möglich ist. Das ist ganz meine Sichtweise. Allerdings glaube ich in den Arbeiten, die mich interessieren, Elemente zu erkennen, die es uns ermöglichen, die spezifische Form dieser gegenwärtigen Moderne besser zu erfassen, um nicht zu sagen, zu definieren. Anders gesagt, unseren Ausstieg aus der Postmoderne zu verhandeln, die nur ein negativer Begriff, undeutlich und voller Widersprüche ist. Kann man denselben Ausdruck verwenden, um zugleich die Neuen Wilden der 1980er Jahre und Matthew Barney, John Currin und die amerikanischen Simulationisten1, Derrida und Allan Bloom zu charakterisieren? Abgesehen davon, dass die Postmoderne ein geschichtliches Jenseits der Moderne bezeichnet, bedeutet dieser Begriff nicht viel, zumindest ist er nicht mehr dafür nützlich, das zu bezeichnen, was der Fall ist. Die fruchtbarsten künstlerischen Unternehmungen bekennen sich ganz zu bestimmten Charakteristiken der Moderne: der Aufwertung der Gegenwart, dem Sinn für das Abenteuer und dem kritischen Relativismus. Abenteuer, weil modern sein immer bedeutet, die Gelegenheit, den Kairos, zu ergreifen, gegen die Vorschriften der Tradition. Relativität, weil der Geist der Moderne darin besteht, einen kritischen Komparationismus ohne Erbarmen für die Gewissheiten zu praktizieren, zu zeigen, dass die uns umgebenden institutionellen oder ideologischen Strukturen nichts anderes als historische Gegebenheiten sind, Konstruktionen, die sich demontieren lassen. Das ist das, was uns von der Utopie bleibt. Was ich Altermodernität genannt habe, ist eine Formation, die gerade im Laufen ist: Sie bezeichnet eine Gesamtheit kultureller und künstlerischer Praktiken, die den modernen Geist mit der Welt verbinden, in der wir leben. Der erklärte Feind der Moderne war der Traditionalismus, und sie hat die industrielle Ästhetik strategisch dazu eingesetzt, um zu ihren Zielen zu gelangen. Was wäre ihr neuer, aktueller Feind? Die Vereinheitlichung, die Nivellierung, die Kommerzialisierung. Die Waffen gegen diese große Standardisierung durch die ökonomische Globalisierung sind die Differenzen und die Singularitäten. Die Notwendigkeit des »Diversen« ersetzt den modernen Universalismus (der auch ein westlicher Zentrismus war) durch einen verallgemeinerten Exotismus, ein globales Nomadentum. Die Künstler wenden strategisch das Vokabular der Medien und der Wirtschaft an, die zwei dominierenden Sprachen unserer Zeit.
2001 waren für dich der DJ und der Programmierer die wichtigsten Figuren der Gegenwartskultur. Heute sind es deiner Meinung nach der Immigrant, der Flüchtling, der Tourist, der Stadtstreicher. Das sind alles Underdogs, mit Ausnahme des Touristen
… Ich habe in Postproduction2 die Produktionsmethoden der heutigen Künstler analysiert, die die Kunstgeschichte wie einen Werkzeugkasten benutzen, die bereits existierende Werke oder zu Gemeingut gewordene Formen als ihre Baumaterialien verwenden. Das ist der Fall beim DJ, der noch immer ein gültiges Modell ist. Wenn man diese Ebene der Produktion verlässt, um zu der des Imaginären und des »Projekts« zu gelangen, muss man sich wohl darüber im Klaren sein, dass das Hauptphänomen unserer Epoche die Globalisierung ist, die eine neue Art des Zirkulierens der Körper und der Identitäten mit sich bringt: Hunderte Millionen Menschen leben nicht dort, wo sie geboren sind, und trotzdem will man, dass die Kultur immer noch von Grenzen umgeben ist? Das ist absurd. Die Einwanderung, aber auch der Massentourismus und das intermittierende Nomadentum3 bringen neue Beziehungen der kulturellen Zeichen mit sich: Sie sind immer weniger Ausdruck eines Territoriums, sondern immer mehr einer Bewegung, einer Bahn, eines Rück-pralls. Die Kulturen werden portabel. Sie schlagen fern ihrer Heimat Wurzeln. Sie erzeugen neue Kreuzungen und befruchten die Böden, die sie aufnehmen. Wenn ich mich auf die Underdogs konzentriere, und besonders auf diejenigen, die gezwungen sind, Immigranten zu sein, dann deswegen, weil sie das eigentliche Bild unserer Epoche sind: das verallgemeinerte Präkariat, das sowohl die materielle Kultur trifft, die gesellschaftlichen Beziehungen, unser Verhältnis zur Zeit, als auch unsere Vorstellung von Kunst. Was wird aus der Kultur außerhalb ihres Verhältnisses zur Geschichte und zur »langen Dauer«, wenn sie im Präkariat versinkt? Wir sind gerade dabei, es zu erfahren …
Nicolas Bourriaud: Die documenta 2007 scheint die Frage zu stellen, ob die Moderne als »unsere Antike« aufzufassen sei, das heißt als ein Modell, das es zu kopieren gilt, um durch den Abstand, der uns von ihr trennt, ein neues Paradigma zu schaffen. »Antike« ist also der mythische Bezugspunkt, von dem aus eine Renaissance möglich ist. Das ist ganz meine Sichtweise. Allerdings glaube ich in den Arbeiten, die mich interessieren, Elemente zu erkennen, die es uns ermöglichen, die spezifische Form dieser gegenwärtigen Moderne besser zu erfassen, um nicht zu sagen, zu definieren. Anders gesagt, unseren Ausstieg aus der Postmoderne zu verhandeln, die nur ein negativer Begriff, undeutlich und voller Widersprüche ist. Kann man denselben Ausdruck verwenden, um zugleich die Neuen Wilden der 1980er Jahre und Matthew Barney, John Currin und die amerikanischen Simulationisten1, Derrida und Allan Bloom zu charakterisieren? Abgesehen davon, dass die Postmoderne ein geschichtliches Jenseits der Moderne bezeichnet, bedeutet dieser Begriff nicht viel, zumindest ist er nicht mehr dafür nützlich, das zu bezeichnen, was der Fall ist. Die fruchtbarsten künstlerischen Unternehmungen bekennen sich ganz zu bestimmten Charakteristiken der Moderne: der Aufwertung der Gegenwart, dem Sinn für das Abenteuer und dem kritischen Relativismus. Abenteuer, weil modern sein immer bedeutet, die Gelegenheit, den Kairos, zu ergreifen, gegen die Vorschriften der Tradition. Relativität, weil der Geist der Moderne darin besteht, einen kritischen Komparationismus ohne Erbarmen für die Gewissheiten zu praktizieren, zu zeigen, dass die uns umgebenden institutionellen oder ideologischen Strukturen nichts anderes als historische Gegebenheiten sind, Konstruktionen, die sich demontieren lassen. Das ist das, was uns von der Utopie bleibt. Was ich Altermodernität genannt habe, ist eine Formation, die gerade im Laufen ist: Sie bezeichnet eine Gesamtheit kultureller und künstlerischer Praktiken, die den modernen Geist mit der Welt verbinden, in der wir leben. Der erklärte Feind der Moderne war der Traditionalismus, und sie hat die industrielle Ästhetik strategisch dazu eingesetzt, um zu ihren Zielen zu gelangen. Was wäre ihr neuer, aktueller Feind? Die Vereinheitlichung, die Nivellierung, die Kommerzialisierung. Die Waffen gegen diese große Standardisierung durch die ökonomische Globalisierung sind die Differenzen und die Singularitäten. Die Notwendigkeit des »Diversen« ersetzt den modernen Universalismus (der auch ein westlicher Zentrismus war) durch einen verallgemeinerten Exotismus, ein globales Nomadentum. Die Künstler wenden strategisch das Vokabular der Medien und der Wirtschaft an, die zwei dominierenden Sprachen unserer Zeit.
2001 waren für dich der DJ und der Programmierer die wichtigsten Figuren der Gegenwartskultur. Heute sind es deiner Meinung nach der Immigrant, der Flüchtling, der Tourist, der Stadtstreicher. Das sind alles Underdogs, mit Ausnahme des Touristen
… Ich habe in Postproduction2 die Produktionsmethoden der heutigen Künstler analysiert, die die Kunstgeschichte wie einen Werkzeugkasten benutzen, die bereits existierende Werke oder zu Gemeingut gewordene Formen als ihre Baumaterialien verwenden. Das ist der Fall beim DJ, der noch immer ein gültiges Modell ist. Wenn man diese Ebene der Produktion verlässt, um zu der des Imaginären und des »Projekts« zu gelangen, muss man sich wohl darüber im Klaren sein, dass das Hauptphänomen unserer Epoche die Globalisierung ist, die eine neue Art des Zirkulierens der Körper und der Identitäten mit sich bringt: Hunderte Millionen Menschen leben nicht dort, wo sie geboren sind, und trotzdem will man, dass die Kultur immer noch von Grenzen umgeben ist? Das ist absurd. Die Einwanderung, aber auch der Massentourismus und das intermittierende Nomadentum3 bringen neue Beziehungen der kulturellen Zeichen mit sich: Sie sind immer weniger Ausdruck eines Territoriums, sondern immer mehr einer Bewegung, einer Bahn, eines Rück-pralls. Die Kulturen werden portabel. Sie schlagen fern ihrer Heimat Wurzeln. Sie erzeugen neue Kreuzungen und befruchten die Böden, die sie aufnehmen. Wenn ich mich auf die Underdogs konzentriere, und besonders auf diejenigen, die gezwungen sind, Immigranten zu sein, dann deswegen, weil sie das eigentliche Bild unserer Epoche sind: das verallgemeinerte Präkariat, das sowohl die materielle Kultur trifft, die gesellschaftlichen Beziehungen, unser Verhältnis zur Zeit, als auch unsere Vorstellung von Kunst. Was wird aus der Kultur außerhalb ihres Verhältnisses zur Geschichte und zur »langen Dauer«, wenn sie im Präkariat versinkt? Wir sind gerade dabei, es zu erfahren …

Bruno Peinado, Paraboles Africaines – Moi, mes logos
Du sagst, dass die globale Migration heute das wichtigste kulturelle Phänomen ist und dass diese Situation es möglicht macht, über kulturelle Identität neu nachzudenken. Was ist kulturelle Identität heute?
Eine kulturelle Identität ist eine Montage von Texten, Formen, Zeichen und erworbenen Verhaltensweisen, die einem Individuum erlauben, sich als einer Gruppe oder einer nationalen Gemeinschaft zugehörig zu definieren. Sie ist also nichts als eine von der Geschichte abgeleitete Fiktion. Sie ist heute umso gefährlicher und virulenter, als die Gewalt der allgemeinen wirtschaftlichen Globalisierungsbewegung zu einer Tendenz führt, die Individuen und Nationen an diesen Typ von Fetisch zurückzubinden als ein Mittel, sich gegen die »Mac World«-Deterritorialisierung zu verteidigen. Eine Erzählung steht einer anderen gegenüber. Und die Gegenwartskunst bietet im Gegensatz dazu ein Ensemble von Formen an, die jede Erzählung in Zweifel ziehen: Was ihr für die Wirklichkeit haltet, ist nur ein Szenario, zeigen uns Pierre Huyghe, Mike Kelley oder Tacita Dean. Der Begriff des Ursprungs ist der Schlüssel zum abendländischen metaphysischen Szenario: Die Welt hat einen Ursprung und einen Zweck, also auch ihr. Es ist kein Zufall, dass die Moderne des 20. Jahrhunderts sich auf den Begriff der Radikalität gründet, abgeleitet vom Wort radikal, das »zur Wurzel gehörig« bedeutet. Es galt, die Kunst und die Politik zu reinigen, zu irgend-einem ursprünglichen Prinzip zurückzukehren. Inwiefern hat die Moderne dieselben Interessen wie der Fundamentalismus? Es scheint mir sicher zu sein, dass zumindest die radikale Logik ihnen gemeinsam ist: das Überflüssige zu beseitigen und an die Quelle, zur Wurzel zurückzukehren. Genau gegen dieses modernistische Prinzip formiert sich die Modernität unseres Jahrhunderts, und zwar ausgehend von Figuren, die im stärksten Gegensatz zum »Universum der Wurzel« stehen: vom Nomaden, dem Umherwandernden, dem Flüchtling. Die zukünftige Modernität wird radikant sein: anstatt zu den Ursprüngen zurückzukehren, wird sie ihre Wurzeln entsprechend ihres Voranschreitens wachsen lassen. Sie wird eine Kunst erzeugen, die nicht identitär ist, sondern Singularitäten erschafft.
Man sieht dies bereits bei so unterschiedlichen Künstlern wie Rirkrit Tiravanija, Paul Chan, Francis Alÿs oder Simon Starling: Weit davon entfernt, irgendeiner vorbestimmten formalen Identität zugeordnet werden zu können, entfaltet sich ihre Arbeit in einer Dynamik des Umherschweifens. Sie sind Semionauten: Sie erfinden Parcours inmitten der Zeichen, ohne sich auf einen Raumtyp zu beschränken. Wir stehen einer außergewöhnlichen Herausforderung gegen-über: die spezifische Kultur einer Epoche zu erfin-den, die in ihrem Wesen eine Epoche der Migration ist. Dazu müssen wir die alten Denkweisen aufgeben, die ein Werk durch seine Zugehörigkeit zu einem bestehenden kulturellen Feld interpretieren. Wir müssen Werkzeuge der Kritik entwickeln, die in der Lage sind, statt statischer Felder Bahnen zu erfassen. Das Radikante ist eine Forderung kultureller Umgestaltung. Es unterscheidet sich klar vom Rhizom, wie es von Deleuze und Guattari erfunden wurde, denn man bewegt sich im Rhizom wie in einem Kreislauf von miteinander verbundenen Bedeutungen. Das Rhizom ist das Bild einer vernetzten, fließenden und horizontalen Welt. Die »Radikalität« des Baums, die Simultaneität des Rhizoms: Welches ist die spezifische Eigenschaft des Radikanten im Verhältnis zu diesen zwei anderen Wachstumsmodellen? Im Gegensatz zum Rhizom nimmt es die Form einer linearen Bahn an, auch wenn diese in Kurven verlaufen kann, denn das Radikante ist mit dem Weg eines Menschen verbunden. Der Radikante ist nicht der Bewohner einer idealen Struktur, wo alles kommuniziert, sondern der Bewohner des Präkariats. Er konstruiert seine Bahn mit dem, was er findet.
Du glaubst, dass die Moderne des 21. Jahrhunderts auf den sich austauschenden und sich gleichzeitig übersetzenden Kulturen aufbauen wird: das, was du die Transkodierung nennst. Bitte erzähl mehr darüber.
Die Übersetzung ist eine neue Idee. Bruno Latour erklärt richtig, dass die Moderne kein Bedürfnis hatte, zu übersetzen: Früher oder später würden sich die »zurück-gebliebenen« Länder angleichen und es ginge darum, überall auf der Welt dieselbe Sprache des technischen Fortschritts zu sprechen. Die modernistische Abstraktion spielte die Rolle eines Esperanto … Heute ist für eine neue Generation von Künstlern die Übersetzung der Singularitäten, einschließlich des Unübersetzbaren, die Basis ihrer Ästhetik. Die Figuren der Übersetzung in der Gegenwartskunst sind zahlreich, aber die Transkodierung ist wahrscheinlich die wichtigste – Übergänge von einem Format zum andern, Formenproduktion durch den Übersetzungsakt selbst: Ein gutes Beispiel wäre »Mont Analogue« von Philippe Parreno, der einen Text von René Daumal als Morsecode wiedergibt. Auch die Praktiken der Reproduktion/des Remix der neuen amerikanischen Künstlergeneration, Wade Guyton, Peter Coffin, Kelley Walker, Seth Price oder Josh Smith, die den Übergang des Bildes von einem Format in ein anderes ins Zentrum ihrer Arbeit rücken, zeigen die Bedeutung, die diese Ästhetik der Übersetzung bekommen hat. Weiters gibt es Künstler, die die Besonderheiten ihrer lokalen Kultur in ein der Kunstgeschichte entliehenes Vokabular übersetzen: Von Sooja Kim bis Surasi Kusolwong steht man Praktiken gegenüber, die spezifisch östliche philosophische Inhalte mit einem formalen Vokabular verbinden, das aus der Minimal Art oder der Konzeptkunst kommt. Nehmen wir einen jungen Künstler wie Bruno Peinado: Seine Kunst spricht Argot. Sie spricht pidgin English, spricht mit dem Logo, der Kommunikation, der Werbung, der Marke, dem Binären, der Informatik. Es geht ihm wie der Mehrzahl der Künstler darum, die Welt abzubilden: Aber da sich keine Abbildung von Herrschaftscodes befreien kann, drücken sie sich in den gängigsten visuellen Sprachen der kulturellen Globalisierung aus. Die Künstler, die mich heute interessieren, sind jene, die im Argot, die in einzigartigen Sprachen Problematiken artikulieren, die jeden berühren können. Die Übersetzung ist die Ethik eines Empfangens von Zeichen.
Du behauptest, dass ein Künstler der Peripherie sich an denselben ästhetischen Kriterien messen können sollte wie ein westlicher Künstler, im selben theoretischen Raum. Was der postmodernen Haltung, einen Künstler anhand seiner eigenen kulturellen Werte zu beurteilen, widerspricht. Das ist das Herz der multikulturellen Ideologie: Den postmodernen Denkern zufolge sollte man einen Künstler nach den ästhetischen Kriterien beurteilen, die aus seiner kulturellen Tradition kommen. Anders gesagt, ihm die Zugehörigkeit zu unserem Raum zu verweigern, zu negieren, dass es einen gemeinsamen Raum (den ich den Raum der Übersetzung nenne) zwischen mir und dem Anderen geben könne. Das bedeutet auch, die Künstler in eine mindere Position zu stellen: Sie nach ihrer lokalen Tradition und ihren lokalen Codes zu beurteilen, bedeutet implizit, dass diese Künstler unfähig wären, sich von ihnen zu befreien und zur Singularität zu gelangen; einen kritischen Diskurs den Regeln gegenüber zu entwickeln, die den kulturellen Diskurs beherrschen, was doch unser Kriterium ist, um Gegenwartskunst zu beurteilen. Wenn ein deutscher oder französischer Künstler im Jahr 2007 Blumen im impressionistischen Stil malt, werden wir ihn für völlig bedeutungslos halten. Wenn ein afrikanischer Künstler der Tradition seines Landes folgt, soll das dann großartig sein?! Die Politik der »Anerkennung des Anderen« (Charles Taylor) stellt sich als Maschinerie der Inferiorisierung heraus, impliziert die Unterwerfung der Individuen, die aus »peripheren« Ländern stammen, unter ihre Folklore und unter ihre Geschichte, verneint die Autonomie des z. B. hinduistischen oder afrikanischen Künstlers gegenüber seinen kulturellen Determinationen.
Kannst du das weiter ausführen und ein Alternativmodell vorschlagen?
Es geht darum, gegen den Begriff des Ursprungs und gegen jede Form der identitären Zuordnung, der Kategorisierung der Gesellschaft zu kämpfen. In der Kunst würde die Aufgabe darin bestehen, die Formen von ihrer identitären Funktion zu lösen. Das andere Modell ist das der Übersetzung, die voraussetzt, dass man in den Diskurs des Anderen eintritt und ihn in seine eigene Sprache übersetzt, was dem Formalen die Stellung eines Vehikels gibt, und nicht eines Identitätsfaktors. Es geht nicht darum, den Sinn gegenüber der Form zu privilegieren: In der Kunst ist die Form Teil des Sinns. Die afrikanischen oder asiatischen Künstler, die meiner Ansicht nach heute wichtig sind, mögen manchmal traditionelle Formen ihrer Kultur verwenden, aber sie bleiben dort nicht haften: Die traditionellen Formen sind in Bewegung versetzt, nomadisiert und begegnen anderen Vokabularen. Es entstehen »Formen-Bahnen« in dynamischen Kartografien. Der Rückgriff auf lokale Formen bei Pascale Marthine Tayou, Shi-mabuku, Damián Ortega oder Jun Nguyen-Hatsushiba, um nur die zu nennen, die mir gerade einfallen, definiert die Welt als ein Territorium, dessen Dimensionen alle durchlaufen werden können, zeitliche wie räumliche.
Warum fokussierst du auf die Frage der Identität und Kultur und nicht auf Klasse oder Gender z. B.? Oder glaubst du, dass man die Fragen nach Klasse und Gender in Begriffen der Kultur und nicht in ökonomischen oder sozialen Begriffen z. B. stellen muss?
Der Identitätsdiskurs benutzt ebenso den geografischen Ursprung wie das Geschlecht, die sexuellen Praktiken und die sozialen Klassen. Das postmoderne Denken ist ein Denken der identitären Zuweisungen unter dem Deckmantel der Dekonstruktion des westlich zentrierten Diskurses. Es geht immer darum, das Individuum auf eine Kategorie zurückzuführen, die geeignet erscheint, seinen Diskurs einzuordnen und seine »Identität« festzulegen. Nur dienen diese großen Kategorien, diese Abstraktionen, der Macht, weil sie die Idee einer aus erstarrten Gemeinschaften bestehenden Gesellschaft legitimieren. Man kennt die Rolle, die diese Kategorisierungen bei der Entwertung des politischen Diskurses spielen, der nicht mehr Bürgern gegenübersteht, die politische Antworten erwarten, sondern Kunden. Wenn man aus diesen Konsumentenpanels und aus den Statistiken ausbricht, wird man Künstler. Judith Butler und das Queer-Denken gehen über diese postmoderne Ideologie der Zuweisung hinaus, indem sie die Unbestimmtheit, die Unentscheidbarkeit in der Konstitution des sexuellen Subjekts behaupten. Das ist eine radikante Denkweise.
Welche Rolle spielt der Exotismus in deinem Ansatz?
Ich widme ein Kapitel meines Buches dem Exotismus, das sich auf die Schriften von Victor Segalen und auf seinen zwischen 1904 und 1918 geschriebenen Essay über den Exotismus4 stützt. Als Reisender bemerkt er sehr früh und mit Klarsicht die Schäden, die die westliche Kolonialisierung verursacht, eine mutige Position damals. Er arbeitete an einer richtiggehenden »Ästhetik des Diversen«, einer Apologie der Heterogenität und der Pluralität der Welten, die von der westlichen Zivilisierungsmaschinerie bedroht wurden. Segalen definiert das »Gefühl des Exotismus« als »Begriff des Anders-Seins«; die Wahrnehmung des Diversen; das Wissen, dass etwas nicht das eigene Ich ist. Seine Eloge auf den Exoten könnte auf den Künstler von heute zutreffen: Ein Individuum, das fähig ist, sein Verhältnis zur Welt auf einer kritischen Hochschätzung der Diversität zu begründen, nicht als Selbstzweck, sondern um gegen die Entropie zu kämpfen, deren gegenwärtige Maske leicht die kulturelle Globalisierung sein könnte. Nicht die Globalisierung ist schlecht, sondern das, was sie mit sich bringt, die Identitätszuordnung, die wie für Themenparks tranchierte Kultur, die Vereinheitlichung der Sprachen und der Denkweisen.
Aus dem Französischen von Richard Steurer
NICOLAS BOURRIAUD (*1965) ist Kunsttheoretiker, Kurator und künstlerischer Direktor des Parco d’Arte Visuale, Turin, sowie Berater der Victor Pinchuk Foundation, Kiew. 1999–2006 war er Co-Direktor des Palais de Tokyo, Paris. Er war einer der Kuratoren der Moscow Biennale, 2007, kuratierte die Biennale de Lyon (mit Jérôme Sans), 2005, und »Aperto«, Biennale di Venezia 1993. Mit Relational Aesthetics (1998) undPostproduction (2001) publizierte er wichtige Bücher zur Kunst der 1990er Jahre.
Postproduction, New York: Lukas & Sternberg, 2005
Relational Aesthetics, Les presses du réel: Dijon-Quetigny, 2002
Eine kulturelle Identität ist eine Montage von Texten, Formen, Zeichen und erworbenen Verhaltensweisen, die einem Individuum erlauben, sich als einer Gruppe oder einer nationalen Gemeinschaft zugehörig zu definieren. Sie ist also nichts als eine von der Geschichte abgeleitete Fiktion. Sie ist heute umso gefährlicher und virulenter, als die Gewalt der allgemeinen wirtschaftlichen Globalisierungsbewegung zu einer Tendenz führt, die Individuen und Nationen an diesen Typ von Fetisch zurückzubinden als ein Mittel, sich gegen die »Mac World«-Deterritorialisierung zu verteidigen. Eine Erzählung steht einer anderen gegenüber. Und die Gegenwartskunst bietet im Gegensatz dazu ein Ensemble von Formen an, die jede Erzählung in Zweifel ziehen: Was ihr für die Wirklichkeit haltet, ist nur ein Szenario, zeigen uns Pierre Huyghe, Mike Kelley oder Tacita Dean. Der Begriff des Ursprungs ist der Schlüssel zum abendländischen metaphysischen Szenario: Die Welt hat einen Ursprung und einen Zweck, also auch ihr. Es ist kein Zufall, dass die Moderne des 20. Jahrhunderts sich auf den Begriff der Radikalität gründet, abgeleitet vom Wort radikal, das »zur Wurzel gehörig« bedeutet. Es galt, die Kunst und die Politik zu reinigen, zu irgend-einem ursprünglichen Prinzip zurückzukehren. Inwiefern hat die Moderne dieselben Interessen wie der Fundamentalismus? Es scheint mir sicher zu sein, dass zumindest die radikale Logik ihnen gemeinsam ist: das Überflüssige zu beseitigen und an die Quelle, zur Wurzel zurückzukehren. Genau gegen dieses modernistische Prinzip formiert sich die Modernität unseres Jahrhunderts, und zwar ausgehend von Figuren, die im stärksten Gegensatz zum »Universum der Wurzel« stehen: vom Nomaden, dem Umherwandernden, dem Flüchtling. Die zukünftige Modernität wird radikant sein: anstatt zu den Ursprüngen zurückzukehren, wird sie ihre Wurzeln entsprechend ihres Voranschreitens wachsen lassen. Sie wird eine Kunst erzeugen, die nicht identitär ist, sondern Singularitäten erschafft.
Man sieht dies bereits bei so unterschiedlichen Künstlern wie Rirkrit Tiravanija, Paul Chan, Francis Alÿs oder Simon Starling: Weit davon entfernt, irgendeiner vorbestimmten formalen Identität zugeordnet werden zu können, entfaltet sich ihre Arbeit in einer Dynamik des Umherschweifens. Sie sind Semionauten: Sie erfinden Parcours inmitten der Zeichen, ohne sich auf einen Raumtyp zu beschränken. Wir stehen einer außergewöhnlichen Herausforderung gegen-über: die spezifische Kultur einer Epoche zu erfin-den, die in ihrem Wesen eine Epoche der Migration ist. Dazu müssen wir die alten Denkweisen aufgeben, die ein Werk durch seine Zugehörigkeit zu einem bestehenden kulturellen Feld interpretieren. Wir müssen Werkzeuge der Kritik entwickeln, die in der Lage sind, statt statischer Felder Bahnen zu erfassen. Das Radikante ist eine Forderung kultureller Umgestaltung. Es unterscheidet sich klar vom Rhizom, wie es von Deleuze und Guattari erfunden wurde, denn man bewegt sich im Rhizom wie in einem Kreislauf von miteinander verbundenen Bedeutungen. Das Rhizom ist das Bild einer vernetzten, fließenden und horizontalen Welt. Die »Radikalität« des Baums, die Simultaneität des Rhizoms: Welches ist die spezifische Eigenschaft des Radikanten im Verhältnis zu diesen zwei anderen Wachstumsmodellen? Im Gegensatz zum Rhizom nimmt es die Form einer linearen Bahn an, auch wenn diese in Kurven verlaufen kann, denn das Radikante ist mit dem Weg eines Menschen verbunden. Der Radikante ist nicht der Bewohner einer idealen Struktur, wo alles kommuniziert, sondern der Bewohner des Präkariats. Er konstruiert seine Bahn mit dem, was er findet.
Du glaubst, dass die Moderne des 21. Jahrhunderts auf den sich austauschenden und sich gleichzeitig übersetzenden Kulturen aufbauen wird: das, was du die Transkodierung nennst. Bitte erzähl mehr darüber.
Die Übersetzung ist eine neue Idee. Bruno Latour erklärt richtig, dass die Moderne kein Bedürfnis hatte, zu übersetzen: Früher oder später würden sich die »zurück-gebliebenen« Länder angleichen und es ginge darum, überall auf der Welt dieselbe Sprache des technischen Fortschritts zu sprechen. Die modernistische Abstraktion spielte die Rolle eines Esperanto … Heute ist für eine neue Generation von Künstlern die Übersetzung der Singularitäten, einschließlich des Unübersetzbaren, die Basis ihrer Ästhetik. Die Figuren der Übersetzung in der Gegenwartskunst sind zahlreich, aber die Transkodierung ist wahrscheinlich die wichtigste – Übergänge von einem Format zum andern, Formenproduktion durch den Übersetzungsakt selbst: Ein gutes Beispiel wäre »Mont Analogue« von Philippe Parreno, der einen Text von René Daumal als Morsecode wiedergibt. Auch die Praktiken der Reproduktion/des Remix der neuen amerikanischen Künstlergeneration, Wade Guyton, Peter Coffin, Kelley Walker, Seth Price oder Josh Smith, die den Übergang des Bildes von einem Format in ein anderes ins Zentrum ihrer Arbeit rücken, zeigen die Bedeutung, die diese Ästhetik der Übersetzung bekommen hat. Weiters gibt es Künstler, die die Besonderheiten ihrer lokalen Kultur in ein der Kunstgeschichte entliehenes Vokabular übersetzen: Von Sooja Kim bis Surasi Kusolwong steht man Praktiken gegenüber, die spezifisch östliche philosophische Inhalte mit einem formalen Vokabular verbinden, das aus der Minimal Art oder der Konzeptkunst kommt. Nehmen wir einen jungen Künstler wie Bruno Peinado: Seine Kunst spricht Argot. Sie spricht pidgin English, spricht mit dem Logo, der Kommunikation, der Werbung, der Marke, dem Binären, der Informatik. Es geht ihm wie der Mehrzahl der Künstler darum, die Welt abzubilden: Aber da sich keine Abbildung von Herrschaftscodes befreien kann, drücken sie sich in den gängigsten visuellen Sprachen der kulturellen Globalisierung aus. Die Künstler, die mich heute interessieren, sind jene, die im Argot, die in einzigartigen Sprachen Problematiken artikulieren, die jeden berühren können. Die Übersetzung ist die Ethik eines Empfangens von Zeichen.
Du behauptest, dass ein Künstler der Peripherie sich an denselben ästhetischen Kriterien messen können sollte wie ein westlicher Künstler, im selben theoretischen Raum. Was der postmodernen Haltung, einen Künstler anhand seiner eigenen kulturellen Werte zu beurteilen, widerspricht. Das ist das Herz der multikulturellen Ideologie: Den postmodernen Denkern zufolge sollte man einen Künstler nach den ästhetischen Kriterien beurteilen, die aus seiner kulturellen Tradition kommen. Anders gesagt, ihm die Zugehörigkeit zu unserem Raum zu verweigern, zu negieren, dass es einen gemeinsamen Raum (den ich den Raum der Übersetzung nenne) zwischen mir und dem Anderen geben könne. Das bedeutet auch, die Künstler in eine mindere Position zu stellen: Sie nach ihrer lokalen Tradition und ihren lokalen Codes zu beurteilen, bedeutet implizit, dass diese Künstler unfähig wären, sich von ihnen zu befreien und zur Singularität zu gelangen; einen kritischen Diskurs den Regeln gegenüber zu entwickeln, die den kulturellen Diskurs beherrschen, was doch unser Kriterium ist, um Gegenwartskunst zu beurteilen. Wenn ein deutscher oder französischer Künstler im Jahr 2007 Blumen im impressionistischen Stil malt, werden wir ihn für völlig bedeutungslos halten. Wenn ein afrikanischer Künstler der Tradition seines Landes folgt, soll das dann großartig sein?! Die Politik der »Anerkennung des Anderen« (Charles Taylor) stellt sich als Maschinerie der Inferiorisierung heraus, impliziert die Unterwerfung der Individuen, die aus »peripheren« Ländern stammen, unter ihre Folklore und unter ihre Geschichte, verneint die Autonomie des z. B. hinduistischen oder afrikanischen Künstlers gegenüber seinen kulturellen Determinationen.
Kannst du das weiter ausführen und ein Alternativmodell vorschlagen?
Es geht darum, gegen den Begriff des Ursprungs und gegen jede Form der identitären Zuordnung, der Kategorisierung der Gesellschaft zu kämpfen. In der Kunst würde die Aufgabe darin bestehen, die Formen von ihrer identitären Funktion zu lösen. Das andere Modell ist das der Übersetzung, die voraussetzt, dass man in den Diskurs des Anderen eintritt und ihn in seine eigene Sprache übersetzt, was dem Formalen die Stellung eines Vehikels gibt, und nicht eines Identitätsfaktors. Es geht nicht darum, den Sinn gegenüber der Form zu privilegieren: In der Kunst ist die Form Teil des Sinns. Die afrikanischen oder asiatischen Künstler, die meiner Ansicht nach heute wichtig sind, mögen manchmal traditionelle Formen ihrer Kultur verwenden, aber sie bleiben dort nicht haften: Die traditionellen Formen sind in Bewegung versetzt, nomadisiert und begegnen anderen Vokabularen. Es entstehen »Formen-Bahnen« in dynamischen Kartografien. Der Rückgriff auf lokale Formen bei Pascale Marthine Tayou, Shi-mabuku, Damián Ortega oder Jun Nguyen-Hatsushiba, um nur die zu nennen, die mir gerade einfallen, definiert die Welt als ein Territorium, dessen Dimensionen alle durchlaufen werden können, zeitliche wie räumliche.
Warum fokussierst du auf die Frage der Identität und Kultur und nicht auf Klasse oder Gender z. B.? Oder glaubst du, dass man die Fragen nach Klasse und Gender in Begriffen der Kultur und nicht in ökonomischen oder sozialen Begriffen z. B. stellen muss?
Der Identitätsdiskurs benutzt ebenso den geografischen Ursprung wie das Geschlecht, die sexuellen Praktiken und die sozialen Klassen. Das postmoderne Denken ist ein Denken der identitären Zuweisungen unter dem Deckmantel der Dekonstruktion des westlich zentrierten Diskurses. Es geht immer darum, das Individuum auf eine Kategorie zurückzuführen, die geeignet erscheint, seinen Diskurs einzuordnen und seine »Identität« festzulegen. Nur dienen diese großen Kategorien, diese Abstraktionen, der Macht, weil sie die Idee einer aus erstarrten Gemeinschaften bestehenden Gesellschaft legitimieren. Man kennt die Rolle, die diese Kategorisierungen bei der Entwertung des politischen Diskurses spielen, der nicht mehr Bürgern gegenübersteht, die politische Antworten erwarten, sondern Kunden. Wenn man aus diesen Konsumentenpanels und aus den Statistiken ausbricht, wird man Künstler. Judith Butler und das Queer-Denken gehen über diese postmoderne Ideologie der Zuweisung hinaus, indem sie die Unbestimmtheit, die Unentscheidbarkeit in der Konstitution des sexuellen Subjekts behaupten. Das ist eine radikante Denkweise.
Welche Rolle spielt der Exotismus in deinem Ansatz?
Ich widme ein Kapitel meines Buches dem Exotismus, das sich auf die Schriften von Victor Segalen und auf seinen zwischen 1904 und 1918 geschriebenen Essay über den Exotismus4 stützt. Als Reisender bemerkt er sehr früh und mit Klarsicht die Schäden, die die westliche Kolonialisierung verursacht, eine mutige Position damals. Er arbeitete an einer richtiggehenden »Ästhetik des Diversen«, einer Apologie der Heterogenität und der Pluralität der Welten, die von der westlichen Zivilisierungsmaschinerie bedroht wurden. Segalen definiert das »Gefühl des Exotismus« als »Begriff des Anders-Seins«; die Wahrnehmung des Diversen; das Wissen, dass etwas nicht das eigene Ich ist. Seine Eloge auf den Exoten könnte auf den Künstler von heute zutreffen: Ein Individuum, das fähig ist, sein Verhältnis zur Welt auf einer kritischen Hochschätzung der Diversität zu begründen, nicht als Selbstzweck, sondern um gegen die Entropie zu kämpfen, deren gegenwärtige Maske leicht die kulturelle Globalisierung sein könnte. Nicht die Globalisierung ist schlecht, sondern das, was sie mit sich bringt, die Identitätszuordnung, die wie für Themenparks tranchierte Kultur, die Vereinheitlichung der Sprachen und der Denkweisen.
1 | Anm. der Red.: Jeff Koons, Haim Steinbach, Ashley Bickerton u. a. |
2 | Nicolas Bourriaud, Postproduction, New York 2005 (2. Auflage) |
3 | Intermittierende Arbeit: Ablösung von Dauerarbeitsbeziehungen durch prekäre Regelungen wie Jobs on Call, Zeit- und Leiharbeitsformen |
4 | Victor Segalen, Die Ästhetik des Diversen, Versuch über den Exotismus, Frankfurt am Main 1994 |
Aus dem Französischen von Richard Steurer
NICOLAS BOURRIAUD (*1965) ist Kunsttheoretiker, Kurator und künstlerischer Direktor des Parco d’Arte Visuale, Turin, sowie Berater der Victor Pinchuk Foundation, Kiew. 1999–2006 war er Co-Direktor des Palais de Tokyo, Paris. Er war einer der Kuratoren der Moscow Biennale, 2007, kuratierte die Biennale de Lyon (mit Jérôme Sans), 2005, und »Aperto«, Biennale di Venezia 1993. Mit Relational Aesthetics (1998) undPostproduction (2001) publizierte er wichtige Bücher zur Kunst der 1990er Jahre.
Postproduction, New York: Lukas & Sternberg, 2005
Relational Aesthetics, Les presses du réel: Dijon-Quetigny, 2002