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Curator's Key

No. 27 / Frühling 2011

Steve Paxton & Mary Ashley in »Dr. Chicago«, 1971
Courtesy Anthology Film Archives, New York

JAY SANDERS, Ko-Kurator der Whitney Biennale 2012, über George Manupellis Filmtrilogie »Dr. Chicago« (1968–1971)

In »Horror of a Deformed Man«, einem Kulthorrorfilm des japanischen Regisseurs Teruo Ishii aus dem Jahr 1969, ist ein überraschendes, aber wichtiges Filmdokument des unkonventionellen Künstler-Choreografen Tatsumi Hijikata zu finden. Der Begründer des Butoh trat mit seinen Tanzspektakeln zwar jahrelang in ganz Japan auf, weigerte sich aber, sie vollständig zu dokumentieren und dauerhaft aufzuzeichnen. Im Gegensatz zu den dunklen, verwackelten, mit einer Handkamera aufgenommenen Filmfragmenten zeigt Ishiis extravaganter Farbfilm lange Einstellungen von Hijikatas wildem und visionärem Tanz an einer passend stürmischen Felsküste und überliefert damit eine bedeutende Butoh-Choreografie aus dieser Zeit. Allerdings dürften nur wenige Zuschauer sie als solche erkennen und das Gebaren eher der eindeutig zerrütteten Psyche der Figur zuschreiben – Hijikata spielt einen verrückten Wissenschaftler, der auf einer abgelegenen Insel bizarre biologische Experimente mit dem Ziel durchführt, Menschen zu entstellen.

Dieses seltene Hybrid eines Genrefilms mit Avantgarde-Elementen findet sich noch extremer in der kürzlich restaurierten Filmtrilogie »Dr. Chicago«. Der amerikanische Künstler und Regisseur George Manupelli schöpfte dabei aus der großen Community rund um das berühmt-berüchtigte ONCE-Festival, einem in den 60er Jahren in Ann Arbor, Michigan, veranstalteten Festival für Neue-Musik- und Multimedia. Sein überraschender Star ist der Avantgardekomponist Alvin Lucier als Dr. Alvin Chicago, ein widerwärtiger, aber liebenswerter Arzt für Geschlechtsumwandlungen, der sich mit ein paar Kumpanen auf der Flucht vor der Polizei befindet. Ton und Tempo des Films werden durch Luciers ausgeprägtes Stottern bestimmt – ein tatsächliches Gebrechen des Komponisten, das im Film noch dadurch verstärkt wird, dass dieser wesentlich von Luciers halbimprovisierten weitschweifigen Monologen lebt. Mit Diagnosen à la »wir müssen einige kleinere Änderungen an Ihrem Körper-r-r vornehmen, vielleicht Ihre K-K-Körpert-t-t-t-temperatur um ein paar Grad erhöhen« quasselt er sich unerschrocken durch alle drei Filme – »Dr. Chicago«(1968), »Ride Dr. Chicago Ride« (1970) und »Cry Dr. Chicago« (1971).

Unter Darstellern und Crew von »Dr. Chicago« befinden sich aber noch weitere Größen. Der Komponist Robert Ashley steuerte den Soundtrack bei, seine damalige Frau, die Performancekünstlerin Mary Ashley, spielte Chicagos Gattin. Auf der Leinwand sind außerdem die Komponistin Pauline Oliveros, die spätere Gourmetkritikerin Ruth Reichl und der Pantomime Claude Kipnis zu sehen. Wichtigstes Gegengewicht zu Dr. Chicagos unablässigem Monologisieren ist allerdings die unheimliche Präsenz des Tänzers Steve Paxton als »Steve«, eine nie erklärte stumme Nebenfigur, die am Ende jedes Films stirbt und im nächsten wieder auftaucht. Paxton, ein Gründungsmitglied des Judson Dance Theater und der Grand Union Tanzgruppe, zeigt einige der abgefahrensten Choreografien, die je auf Film gebannt wurden – er heilt ein krankes Mädchen, indem er ihm feuchte Eichenblätter auflegt, führt einen Zaubertrick mit Schnur und Schere dermaßen langsam vor, dass jegliche Spannung verloren geht, geht auf den konvulsivischen Anfall einer Figur mit einer spontanen Contact Improvisation ein und umwickelt Dr. Chicago mit Mullbinden, während dieser an seiner Zigarre pafft. Wie bei Hijikatas Filmausflug so werden auch bei dem von Paxton die erstaunlich schönen und eigentümlichen Tanzeinlagen durch Landschaften mitdefiniert: eine Wüstenpiste, eine abgelegene Blockhütte oder eine elegant ausgestattete Villa.


Alvin Lucier in »Cry Dr. Chicago«, 1971
Courtesy Anthology Film Archives, New York

Während aber Hijikata und seine choreografische Arbeit sich auch kommerziellen Kino-Interessen fügt, ist die »Dr. Chicago«-Trilogie ein reines Underground-Unternehmen. Insofern ist sie ein Vorläufer des New Yorker No-Wave-Künstlerfilms der späten 70er Jahre (insbesondere John Luries »Men in Orbit« und James Nares’ »Rome 78«). Und auch für die Beteiligten an »Dr. Chicago« folgten danach wegweisende Arbeiten. Robert Ashley schrieb bald darauf seine »Music with Roots in the Aether«, eine »Oper« aus langen Videoporträts von Komponisten seiner Generation. Und Luciers Stottern war Auslöser für seine einflussreichste Komposition »I Am Sitting in a Room«, in der er laut liest: »Ich sitze in einem Raum, der nicht derselbe ist wie der, in dem Sie sich gerade befinden. Ich nehme meine Stimme auf …«, und mit den Worten endet: »Ich betrachte diese Tätigkeit weniger als Demonstration eines physikalischen Phänomens, sondern als eine Möglichkeit, die Unregelmäßigkeiten meines Sprechens auszugleichen.« Eine Aufnahme dieses Monologs wird dann im selben Raum wiederabgespielt und erneut aufgenommen. Der Vorgang wird immer weiter wiederholt, so dass sich die Worte mehr und mehr in den Resonanzen des Raumes verlieren. Ein Modell für unzählige künstlerische Versuche, »Verlust« durch Wiederholung zu erzeugen, eine alchemistische Formel zur Freilegung der latenten Aura, die sich in allen Medien findet.